# taz.de -- Regisseur Leo Khasin über Antisemitismus: „Als wäre ‚Jude‘ … | |
> Die Leute tänzeln um das Wort „jüdisch“ herum, sagt Regisseur und Autor | |
> Leo Khasin. Im Film „Das Unwort“ zeigt er die Hilflosigkeit der | |
> Gesellschaft. | |
Bild: Im Film „Das Unwort“ wehrt sich Max (Samuel Benito, Mitte) gegen anti… | |
taz: Herr Khasin, in Ihrem Film „Das Unwort“ erzählen Sie von Max, der Jude | |
ist und an seiner Schule antisemitisch gemobbt und drangsaliert wird. Aus | |
Notwehr beißt er einem Mitschüler das Ohrläppchen ab, dem anderen bricht er | |
die Nase. Eine fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen ziemlich ungewöhnliche | |
Herangehensweise an das Thema Antisemitismus, oder? | |
Leo Khasin: Der Impuls zu dem Thema kam tatsächlich aus der ZDF-Redaktion. | |
Ich wurde gefragt, ob ich einen Film machen möchte. Anfänglich hatte ich so | |
meine Bedenken. Es ist ja ein Thema, das breit in den Medien diskutiert | |
wird, es gibt Reportagen und viele Berichte dazu. Ich wollte aber keinen | |
Betroffenheitsfilm machen. | |
Sondern? | |
Ich wollte es mal als Komödie versuchen. [1][Juden werden im deutschen Kino | |
oder Fernsehen häufig in einer Opferrolle gezeigt]. Da kommt dann immer | |
noch sentimentale Klezmermusik im Hintergrund. Mich nervt das. Ja, wir | |
haben einen steigenden Antisemitismus in Deutschland. Aber der moderne Jude | |
möchte sich einfach nicht mehr nur als Opfer sehen. | |
Sie sind selbst Jude und kamen mit acht Jahren gemeinsam mit Ihrer Familie | |
aus der Sowjetunion nach Deutschland. Konnten Sie persönlich an das Thema | |
des Films anknüpfen? | |
Ja, schon vor dem Auftrag habe ich mich mit den Themen Antisemitismus und | |
Mobbing an Schulen intensiv auseinandergesetzt. Ich habe da eine Haltung, | |
eine Wut und Ohnmacht. Ich habe mir für den Film die Frage gestellt, wie | |
ich dieses Thema darstellen kann, ohne dass es schon tausendmal gesagt | |
wurde, ohne dass es langweilt. Wie fühlt man sich als jüdischer Schüler? | |
Welche Möglichkeiten hat man und welche Ohnmacht erlebt man? All diese | |
Gedanken habe ich einfließen lassen, weil ich auch mal ein jüdischer | |
Schüler an einer Schule war. Ich habe natürlich nicht genau dasselbe erlebt | |
wie die Figur Max, aber ich sage mal, die Angst oder die Unsicherheit zu | |
sagen, dass man jüdisch ist, das habe ich erlebt. Und das wird auch im Film | |
gezeigt. | |
Unsicher sind in Ihrem Film aber nicht nur die jüdischen Schüler, auch die | |
Lehrkräfte. Die scheinen Antisemitismus nicht mal erkennen zu können. Fehlt | |
es da an Sensibilität? | |
Leider ja. Es gibt natürlich auch gewissenhafte Lehrer, so ist es nicht. | |
Ich habe auch von Fällen gehört, in denen Schulleiter und Lehrer | |
entschlossen gehandelt haben, wenn Schüler antisemitisch gemobbt wurden. | |
Aber in vielen Fällen mangelt es an Sensibilität, an Empathie, an | |
Interesse. Das große Problem ist immer noch die Mehrheitsgesellschaft in | |
Deutschland. Die schaut weg. | |
Der Schulleiter redet den Vorfall klein. Er sagt: „Wir sind eine ‚Schule | |
ohne Rassismus‘“. An seiner Schule könne es deshalb gar keinen | |
Antisemitismus geben. Was steckt hinter so einer Haltung? | |
Ich habe mal eine Reportage gesehen auf Arte, über einen tatsächlichen Fall | |
von einem jüdischen Jungen in Berlin. Der wurde [2][an einer Schule in | |
Friedenau gemobbt]. Die Eltern sind selbst an die Presse gegangen, es gab | |
einen medialen Aufschrei. Und dort war genau so ein Direktor, der sagte: | |
„Meine Haltung ist: ich bin total weltoffen und gegen Rassismus.“ Aber er | |
könne doch nichts dafür, wenn es in der Schule antisemitische Übergriffe | |
gebe. Die hätten nichts mit seiner Haltung zu tun. Und es war tatsächlich | |
auch eine Schule, die diesen Titel „Schule ohne Rassismus“ trug. | |
Die Argumentation von diesem Direktor ist immer so eine leichte Ausrede: | |
Ich kann nichts für die Probleme auf der Welt. Ich versuche sie zwar zu | |
lösen, aber irgendwo gibt es Grenzen. Mich hat das geärgert. Hinter so | |
einer Haltung steckt oft, so scheint mir, dass jüdische Schüler einem | |
Schulleiter eher egal sind. Das klingt jetzt vielleicht perfide: Aber es | |
gibt an einer Schule vielleicht drei jüdische Schüler und im Gegensatz dazu | |
200 muslimische Schüler. So ein Schulleiter muss natürlich zusehen, wie er | |
mit der größeren Gruppe klarkommt. Da wird dann vielleicht leichter gesagt: | |
Na gut, die drei jüdischen Schüler, besser, wenn sie weg sind. Problem | |
gelöst. | |
In Ihrem Film sperrt der Schulleiter alle jüdischen Schüler:innen in den | |
Chemieraum ein. Sein Argument: So schütze man sie vor den muslimischen | |
Schülern, die eine potenzielle Gefahr seien. | |
Ja, nach dem Motto: Es ist ja gut gemeint. Das ist natürlich eine | |
Zuspitzung. Aber der Chemieraum mit seinen Gashähnen sollte zeigen, was man | |
den Jugendlichen da eigentlich antut. | |
Und dann ist da noch die vollkommen überforderte Lehrerin von Max. Die ist | |
harmoniebedürftig und beteuert deshalb immer wieder, dass sie sich | |
eigentlich nur „Frieden in der Klasse“ wünscht. Den jüdischen Eltern von | |
Max bietet sie Falafel und gefillten Fisch an, die sie mit Israel- und | |
Palästinaflaggen bestückt. Klingt nach einem verklemmten deutsch-jüdischen | |
Verhältnis. | |
Ich wollte die Figur des Gutmenschen zeigen, die glaubt, gerecht zu sein, | |
aber auch glaubt, na ja, Juden haben Israel, die sind jetzt das starke | |
Volk. Die Lehrerin zum Beispiel, die ist emotional nicht willens, einem | |
jüdischen Jungen zu helfen. Sie denkt, sie muss etwas Gutes tun, sie denkt, | |
sie muss mit ihren Schülern Anne Franks Tagebuch im Unterricht durchnehmen. | |
Weil sie das als Deutsche eben tun muss. Aber davon überzeugt ist sie | |
nicht. | |
Viele Deutsche, das sieht man auch immer wieder in Umfragen, sind müde | |
davon, über Antisemitismus zu sprechen. Weil auch die Ansicht vorherrscht, | |
diesen überwunden zu haben. Es heißt dann oft: Jetzt ist auch mal wieder | |
gut. Was denken Sie: Wie wird das ZDF-Publikum auf Ihren Film reagieren? | |
Nach außen sind alle weltoffen und wollen bloß keine Rassisten sein. Aber | |
Vorurteile sind da. Machen wir uns nichts vor. Wie das ZDF-Publikum | |
reagieren wird, ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Als ich noch im Schnitt | |
saß, dachte ich teilweise: Wer wird sich das anschauen? Was ich aber | |
glaube, ist, dass es eine Diskussion auslösen wird und sich viele | |
vielleicht doch auf den Schlips getreten fühlen werden. Würde ich mir sogar | |
wünschen. | |
Was müsste in Schulen anders laufen, um antisemitisches Mobbing zu | |
verhindern? | |
Ich habe das Gefühl, das Thema Nationalsozialismus wurde zu meiner | |
Schulzeit intensiver behandelt als heute. Ich habe selbst Kinder, daher der | |
Vergleich. Ich würde mir wünschen, dass es wieder einen größeren Fokus im | |
Unterricht darauf gibt. Ich würde mir auch wünschen, dass jüdisches Leben | |
anders wahrgenommen werden kann in Deutschland. Dass Juden nicht immer als | |
Opfer dargestellt werden, sondern als Teil einer Kultur verstanden werden, | |
die auch eigenständig bleiben darf. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich kenne Leute, die um das Wort Jude rumtänzeln. Die trauen sich nicht, | |
das zu sagen, weil sie glauben, das sei ein Schimpfwort. Das kann erst | |
anders werden, wenn es eine Normalisierung gibt. Man erwartet ja immer in | |
Deutschland, dass sich eine Kultur assimiliert, total aufgibt im | |
Deutschtum. Das sollte nicht sein. Die Kultur des Judentums muss einen | |
neuen Stellenwert bekommen. Ich glaube, wenn das passiert, kann man damit | |
offener umgehen, ohne dass es ein Betroffenheitsthema ist. Wenn man in | |
Deutschland endlich versteht, dass wir eine multikulturelle Gesellschaft | |
sind und nicht eine Gesellschaft von Deutschen, die Gastarbeiter oder | |
Kontingentflüchtlinge aufgenommen hat, dann wird sich was ändern.[3][[Link | |
auf | |
https://www.zdf.de/filme/der-fernsehfilm-der-woche/das-unwort-100.html]] | |
9 Nov 2020 | |
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[1] /Tatort-aus-Berlin-und-Juden-im-Film/!5411523/ | |
[2] /Antisemitismus-an-Berliner-Schule/!5393958/ | |
[3] https://www.zdf.de/filme/der-fernsehfilm-der-woche/das-unwort-100.html | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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