# taz.de -- „Tatort“ aus Berlin und Juden im Film: Typisch jüdisch, oder? | |
> Deutsche Filme stellen jüdisches Leben meist klischeehaft dar. Der | |
> Berliner „Tatort“ mit seiner ersten jüdischen Kommissarin macht es | |
> besser. | |
Bild: Meret Becker und Aleksander Tesla im Tatort „Amour Fou“ | |
Vieles macht den Sehnsuchtsort Berlin aus, unter anderem jüdisches Leben. | |
Sichtbares jüdisches Leben. Klezmer, Essen, nächtliche Haflas – Juden, so | |
scheint es, sind in der Hauptstadt gleichzeitig begehrenswert exotisch und | |
wohltuend normal. Berlin ist vielleicht neben New York das einzige | |
großstädtische Habitat, in dem sie sein können, wie sie wollen, so | |
künstlerisch, so intellektuell, so sexy. | |
Und auch wenn das alles keineswegs der Realität entspricht, so ist es | |
zumindest eine schöne Vorstellung. Eine Sehnsucht eben. Kein Wunder also, | |
dass gerade in Berlin mit Nina Rubin (Meret Becker) die erste jüdische | |
Tatort-Kommissarin ermittelt – und auch nicht, dass in der Folge „Amour | |
Fou“, die am Pfingstmontag ausgestrahlt wird, Berlin als Stadt eine | |
prominente Rolle spielt. | |
Wie jüdische Figuren im deutschen Spielfilm dargestellt werden, hatte schon | |
immer mit dem bundesrepublikanischen Selbstverständnis zu tun. Viele | |
Deutsche haben im Alltag nach wie vor keine Berührungspunkte mit jüdischem | |
Leben. Umso mehr ist es von Bedeutung, welche Möglichkeiten für mediale | |
„Begegnungen“ existieren. | |
Lange jedoch gaben jüdische Filmfiguren eher Einblick in das Bild der | |
Deutschen von sich selbst und in ihre Sehnsüchte als in das tatsächliche | |
Leben von Jüdinnen und Juden. Zunächst erschienen Jüdinnen und Juden primär | |
als Opfer der Schoah: Sie waren Überlebende, zumeist als passiv inszeniert | |
und flankiert von deutsch-nichtjüdischen Helferfiguren. Oft fungierten sie | |
als Spiegelfiguren zur Beschreibung oder gar Bewertung gesellschaftlicher | |
Verhältnisse. Sie wurden zum Prüfstein der gesellschaftlichen Entwicklungen | |
in der Bundesrepublik. | |
Seit der Wiedervereinigung treten jüdische Figuren dann auch im deutschen | |
Fernsehen häufiger auf – oft verbunden mit der Stadt Berlin. So entspinnt | |
sich im deutsch-französischen Kinofilm „Obsession“ (1997) eine | |
Dreiecksgeschichte zwischen einer deutschen Girlband-Musikerin, ihrem | |
französischen Freund und einem Südafrikaner. Letzterer kommt bei einem | |
jüdischen Brüderpaar unter, das eine Schneiderwerkstatt betreibt. Die | |
Brüder wirken, wie auch ihre Werkstatt, merkwürdig aus der Zeit gefallen, | |
wie ein Echo des jüdischen Lebens der 1920er Jahre, und fügen dem kantigen, | |
Girlie-bewegten Berlin eine weitere Nuance Schrägheit hinzu. | |
## Atmosphärische Nebenfiguren | |
Diese jüdischen Figuren sind jedoch nicht handlungstragend, sondern rein | |
atmosphärische Nebenfiguren. Dasselbe Prinzip kehrt wenige Jahre später in | |
der erfolgreichen Fernsehserie „Berlin Berlin“ (2002–05) wieder. Landei | |
Lolle emanzipiert sich in der Hauptstadt. Der titelgebende Ort wird durch | |
das Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen charakterisiert, | |
verkörpert durch Nebenfiguren.So verliebt sich Lolle, unglücklich | |
natürlich, in den jüdischen Restaurantbesitzer Moshe. Koscheres Essen, | |
Rabbi und Menorot inklusive – und eine jüdische Ehefrau, die sich zum | |
richtigen Zeitpunkt immer in Israel oder den USA befindet. | |
Doch Berlin ist eben auch der Handlungsort, an dem die Vielfalt jüdischen | |
Lebens jenseits von Klischees sichtbar werden kann: In Dominik Grafs ebenso | |
großartiger wie unglücklich versendeter Krimiserie [1][„Im Angesicht des | |
Verbrechens“] (2010) ermittelt der junge Polizist Marek Gorsky zwischen | |
deutscher Polizei, russischer Mafia und jüdischem Elternhaus. Aller | |
Aufregung der Handlung zum Trotz bleibt sein Jüdischsein völlig | |
unaufgeregt. Das erste Mal in der bundesrepublikanischen Fernsehgeschichte | |
blitzt hier so etwas wie Normalität auf. | |
Auch [2][„Russendisko“] (2012) und „Kaddisch für einen Freund“ (2012) | |
zeigen endlich russisch-jüdisches Leben in Berlin. Sogar die wenig | |
unterhaltsame, schablonenhafte Fernsehkomödie „So ein Schlamassel“ (2009) | |
enthielt mit einem orthodoxen, lesbischen Paar unter den Nebenfiguren | |
immerhin ein wenig Ambivalenz am Rande der ansonsten klischeebeladenen | |
Darstellung. | |
Doch zurück zum Tatort. Er ist nicht irgendein Fernsehfilm und auch nicht | |
irgendein Krimi, sondern gilt vielen als Spiegel der Gesellschaft. Sein | |
Erfolgsrezept ist seine Mischung: Krimi als Lieblingsgenre der Deutschen, | |
dazu Lokalkolorit, wiederkehrende Elemente und aktuelle Bezüge. | |
Was jüdische Figuren angeht, hat sich der Tatort aber nicht von Anfang an | |
als fortschrittlich hervorgetan: 1996 ermittelten in „Tod im Jaguar“ die | |
Berliner Kommissare im Umfeld eines reichen jüdischen Industriellen, der, | |
bedroht von Neonazis, seinen Tod vortäuschte, um unterzutauchen. Es stimmte | |
nichts in diesem vor Klischees nur so strotzenden Krimi – und so landete er | |
wie einige andere Tatort-Filme im Giftschrank. | |
Seitdem ist viel passiert: Die jüdische Minderheit ist durch Zuwanderung | |
aus den ehemaligen GUS-Staaten von etwa 30.000 Jüdinnen und Juden in der | |
alten Bundesrepublik auf rund 200.000 in der neuen angewachsen. Das | |
Ergebnis: eine neue Diversität und neue Fragen. Nach der üblichen | |
Inkubationszeit, die gesellschaftliche Themen brauchen, um in den fiktiven | |
Welten des Spielfilms anzukommen, sind einige dieser Veränderungen heute | |
auch im deutschen Fernsehen sichtbar. | |
So haben wir jetzt Nina Rubin – eine echte Berlinerin, Tochter eines | |
Boxclubbesitzers, für ihren Ehemann und „aus innerer Überzeugung“ zum | |
Judentum konvertiert. Mutter zweier Söhne und Ermittlerin in der | |
Mordkommission. In ihrem fünften Fall finden sie und ihr Ehemann Viktor | |
wieder zusammen. Nina bemüht sich um ihre Ehe, doch die Dreiecksgeschichte | |
mit ihrem Mann und dem Berliner Nachtleben bleibt kompliziert. | |
Wir erinnern uns: Im ersten Fall zog Viktor aus, angestrengt von Ninas | |
nächtlichen Eskapaden. Während der 13-jährige Kaleb bei der Mutter blieb, | |
zog der 15-jährige Tolja zu Viktor. Kalebs Bar-Mizwa, die beinahe ohne Nina | |
stattfand, brachte Viktor und sie wieder näher zusammen. In „Amour fou“ | |
ziehen nun Viktor und Tolja zurück in die Familienwohnung – doch dann | |
bekommt Viktor ein attraktives Jobangebot aus Bayern, und Nina muss sich | |
entscheiden. Eine Nebenhandlung, in der die Figuren zufällig jüdisch sind. | |
Es ist der Sehnsuchtsort Berlin, an dem all das möglich ist. Ein Ort, mit | |
dem die Idee verbunden ist, alles ein bisschen besser zu machen, ein | |
bisschen liberaler, ein bisschen freier und vielfältiger als im Rest der | |
Deutschlands. So auch im Tatort. Hier wird ein schwuler Hauptverdächtiger | |
nicht von der Polizei schikaniert, sondern der Kommissar flirtet mit ihm – | |
übrigens auch das ein Novum im Tatort, denn Nina Rubins Partner Karow ist | |
der erste bisexuelle Ermittler. | |
Was aber bringt diese noch neue jüdische Hauptfigur für das deutsche | |
Fernsehen? Vielleicht die banale Erkenntnis, dass eine einzelne Figur nie | |
allumfassend für eine ganze Gruppe stehen kann. Aber auch, dass die | |
unaufgeregte Darstellung von Figuren, die nebenbei auch jüdisch sind, | |
wohltuend sein kann – für ein jüdisches wie nichtjüdisches Fernsehpublikum. | |
Vielleicht die Einsicht, dass es einen Unterschied macht, ob nichtjüdische | |
Kommissare in jüdischen Milieus ermitteln oder eine Jüdin ganz | |
selbstverständlich Teil der deutschen Polizei ist. Auch wenn darin | |
natürlich wiederum ein Funken deutscher Sehnsucht steckt. | |
5 Jun 2017 | |
## LINKS | |
[1] /ARD-Epos-ueber-Russen-Mafia-in-Berlin/!5133637 | |
[2] /Film-Russendisko/!5097360 | |
## AUTOREN | |
Lea Wohl von Haselberg | |
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