# taz.de -- Neues Sarrazin-Buch: Alternativer Faktizismus | |
> Thilo Sarrazins Thesen in „Feindliche Übernahme“ sind absurd – aber als | |
> Krisensymptom muss man das Buch ernst nehmen. | |
Bild: Ein beliebter Sarrazin'scher Topos: Duisburg-Marxloh | |
Ja, es ist ganz der alte Thilo Sarrazin, den man erlebt, wenn man seine | |
neueste Kampfschrift liest. Der Aufwiegler, der Aussparer, der Angstmacher | |
Sarrazin. | |
Und der Gleichmacher Sarrazin, der zwar etwa in der Mitte seines neuen | |
Buches „Feindliche Übernahme“ in einer Laune feststellt, dass es „den“ | |
Islam selbstverständlich nicht gebe, aber der „den“ Islam davor und danach | |
mit der gleichen Selbstverständlichkeit als per se reformresistent, | |
kulturlos und brandgefährlich darstellt. Und der Muslime durch die Bank als | |
nichtsnutzig, unterwürfig und bildungsfern kennzeichnet. | |
Das Buch liest sich dabei wie der zweite Teil von „Deutschland schafft sich | |
ab“ (2010), seine zentralen Thesen wiederholt der 73-jährige Autor ständig. | |
Die Kurzfassung: Der Islam ist mit Demokratie, Moderne und Aufklärung | |
unvereinbar. In der Tradition des Islam ist Gewalt bereits angelegt. | |
Muslime sind aufgrund ihrer kulturell-religiösen Prägung | |
überdurchschnittlich ungebildet, sie sind dialog- und diskursunfähig. | |
Schließlich, das kennt man schon: Qua Geburtenrate werden die Muslime den | |
Westen überrennen. Wer aber all dies anspreche, behauptet Sarrazin etwa im | |
10-Seiten-Takt, der gelte als rechts. | |
## Die deutsche Realität 2018 | |
„Feindliche Übernahme“ ist voller haarsträubender Annahmen und Fehler – | |
dazu später mehr – und verleitet dazu, allzu polemisch darauf zu reagieren, | |
wie in den vergangenen Tagen geschehen. Jeder halbwegs vernunftbegabte | |
Mensch stimmt sofort zu, wenn die Süddeutsche schreibt: „Deutschland | |
braucht dieses Buch so nötig wie einen Ebola-Ausbruch“, oder die taz: | |
„Dieses Buch braucht kein Mensch.“ | |
Aber es geht dennoch auch an der deutschen Realität 2018 vorbei, in der, um | |
das erste Bild zu nehmen, es schon längst Infizierte gibt und, um den | |
zweiten Satz aufzugreifen, die Bestsellerlisten dies widerlegen werden. Als | |
Krisensymptom sollte man Sarrazin, der alternative Fakten schon schuf, als | |
es dieses Wort noch nicht gab, schon ernst nehmen. | |
Wenn man sich die Argumentation, Quellen, Analogien und Kausalzusammenhänge | |
anschaut und zudem die Vorgeschichte im Kopf hat – der DVA Verlag lehnte es | |
trotz Vertrag ab, das Buch zu publizieren, Sarrazin fand mit dem FinanzBuch | |
Verlag einen neuen Verleger und verklagte seinen alten Verlag –, wird es um | |
so ärgerlicher. | |
Zu Beginn steht eine oberflächliche Koran-Lektüre, die der Autor | |
vorgenommen hat. Sarrazin, der nicht Arabisch spricht, bezieht sich dabei | |
auf eine deutsche Übersetzung, auch unterschiedliche Auslegungen | |
interessieren ihn nicht. Auffällig ist, wie wenig man als koranunkundiger | |
Mensch (zu denen ich zähle) dabei lernt; viele Suren – die meisten der | |
aufgezählten sind gewaltverherrlichend – waren einem tatsächlich schon | |
bekannt. | |
Der Aussagewert ist aus zweierlei Gründen gleich null: Ohne Einbeziehung | |
verschiedener Übersetzungen, Auslegungen und Kontexte Erkenntnisse aus | |
einzelnen Suren zu destillieren, ist sinnlos. An einem viel diskutierten | |
Koranvers, der oft genannt wird, um die Friedfertigkeit der Religion zu | |
betonen – „Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als habe er die | |
ganze Menschheit getötet!“ (Sure 5:32) –, kann man ablesen, wie abhängig | |
der Bedeutungsgehalt von Kontext und Übersetzung ist, denn im Zusammenhang | |
dieser Sure ergibt sich ein anderes Bild als das einer friedliebenden | |
Religion. | |
## Sarrazins Disziplinen-Mix | |
Sarrazins Buch ist völlig disparat. Für seine Argumentation, auch das kennt | |
man schon, mischt er (religions-)historische, biologistische | |
(darwinistische) und soziologische Prämissen, wie es gerade passt. So ist | |
das zweite Kapitel ein willkürlicher Streifzug durch die Problemzonen | |
islamischer Länder, darauf folgt eine Abhandlung, in welchen Bereichen der | |
Islam rückständig ist, ehe Sarrazin mit Statistiken „belegt“, dass Muslime | |
bildungsunfähig und kriminell sind – und hierzulande nur gepampert werden. | |
Wie unseriös er dies alles darstellt, lässt sich an seinen Auslassungen | |
zeigen. Zum Beispiel will Sarrazin etwas über die Integrationsfähigkeit von | |
Muslimen sagen, aber das Alltagsleben muslimischer Migranten kommt nicht | |
vor, er zitiert nur muslimische Intellektuelle wie Tahar Ben Jelloun. | |
Ansonsten erscheinen Muslime vorwiegend in Gestalt von Zahlen. | |
Ein anderes Beispiel: Die Reislamisierung der Türkei und die | |
Erdoğan-Zustimmung hierzulande nutzt er für seine antimuslimische | |
Argumentation – die säkulare türkische Opposition aber wird mit keinem Wort | |
erwähnt. Die Hoch-Zeit der arabischen Wissenschaften kommt auf 450 Seiten | |
ebenfalls nicht vor; Sarrazin erklärt allen Ernstes, es habe keine | |
eigenständige islamische Baukultur gegeben. Von arabischen Musiktraditionen | |
weiß er auch nichts. Also lässt er sie weg. | |
Was die Quellen betrifft, nutzt Sarrazin, von Reiseberichten aus der Mitte | |
des 19. Jahrhunderts (Hermann Vámbéry) bis zu Meldungen aus | |
Nachrichtenportalen, deren Quellen oft fragwürdig sind, alles an Material – | |
solange es nur seine Thesen stützt. | |
## Sonnenallee und KaDeWe | |
Eigene Beobachtungen von der Neuköllner Sonnenallee, der Berliner | |
Philharmonie (wo er keine Kopftuchträger sieht) und aus dem KaDeWe (wo er | |
schon welche trifft, denn Konsum, das können sie, die Muslime) dienen auch | |
schon mal der Argumentation – und wenn er es braucht, nimmt er auch sein | |
persönliches Umfeld zu Hilfe: Eine Bekannte Sarrazins, die als | |
Sozialarbeiterin in Berlin-Neukölln arbeitet, weiß aus ihrer täglichen | |
Arbeit, Angela Merkel hätte „15.000 [Menschen] aus humanitären Gründen ins | |
Land lassen können, der Rest sei unverantwortlich gewesen“. Auf der | |
Grundlage solcher Expertisen wird Sarrazin am Ende fordern, man müsse die | |
„Einwanderung von Muslimen grundsätzlich unterbinden“, ergo das Grundgesetz | |
ändern. | |
Sarrazin geht den Quellen, die ihm nutzen, nie auf den Grund. So findet | |
sich im Buch die Behauptung „58 Prozent aller Sozialleistungen“ in Schweden | |
gingen „an Migranten“. Ein gutes Beispiel für die Methode Sarrazin: Denn | |
zum einen geht es in der zitierten Statistik nur um die klassische | |
Sozialhilfe, zum anderen werden Familien „mit einem im Ausland geborenen | |
Mitglied“ eingerechnet – ob aus der EU oder von sonst wo her. | |
Eine Differenzierung zwischen Islam und Islamismus lehnt Sarrazin ab, | |
Letzterer ist für ihn eine logische Folge des Ersteren, so „wurzeln […] | |
Untaten wie […] das Wüten des IS gegen Bildnisse und antike Kulturgüter in | |
einer ehrwürdigen islamischen Tradition“. Man könnte endlos so | |
weitermachen. | |
So steckt jede Menge Gift im neuen Sarrazin. Auf eine pikante Äußerung zur | |
deutschen Geschichte ist bislang noch nicht hingewiesen worden: „Ziemlich | |
klar scheint mir“, schreibt er, „dass die deutsche Politik nach Bismarck | |
die Implikationen der Geografie falsch einschätzte und letztlich ungewollt | |
die Katastrophen des 20. Jahrhunderts über uns brachte“. Auch interessant, | |
dass dieses „letztlich ungewollt“ beim Verlag niemand herausnehmen wollte, | |
wie man dem Verlag überhaupt ein Totalversagen attestieren muss – das | |
„Dritte Reich“ als unbeabsichtigte Spätfolge, als Kollateralschaden? | |
Für liberale Geister kann eine wütend machende Veröffentlichung wie | |
„Feindliche Übernahme“ aber auch Anlass zur Selbstkritik sein. Die | |
Auseinandersetzung mit patriarchalen und autoritären Denkmustern im Islam, | |
mit muslimischem Antisemitismus und Antiliberalismus ist eine zu | |
entscheidende für die Zukunft, als dass man den kritischen Umgang damit und | |
die Diskurshoheit den Rechten überlassen sollte. | |
Und angesichts dessen, dass Tausende Leserinnen und Leser nun bei Sarrazin | |
bestätigt bekommen, was sie hören wollen, reicht es auch nicht, ihn mit dem | |
Hinweis, er sei ein „verbitterter Mann“ (Lars Klingbeil), aus der SPD | |
werfen zu wollen, noch „Eine Modelleisenbahn für Thilo Sarrazin“ (Zeit | |
Online) zu fordern. Diese Selbstgefälligkeit scheint aktuell nicht | |
angebracht. | |
5 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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