| # taz.de -- Politische Kunst nach Chemnitz: Sie singen wieder | |
| > Die Kunst kann mehr Massen mobilisieren als jedes andere | |
| > gesellschaftliche Feld. Was sagt das über den Zustand der Politik in | |
| > diesem Land? | |
| Bild: 65.000 Menschen, die gegen Rassismus singen, sind besser als 65.000 Mensc… | |
| [1][Dass die Kunst wieder politischer werden müsse,] ist eine These, die | |
| man in diesen bewegten Chemnitzer Tagen öfter hört. Erstaunlich dabei: Die | |
| ja im Umkehrschluss nicht ohne Logik aufzustellende Forderung, dass Politik | |
| und Medien wieder künstlerischer werden sollten, dürfte hingegen kaum auf | |
| ähnliche Begeisterung stoßen. Jedes gesellschaftliche Feld hat anscheinend | |
| bestimmte Aufgaben und Fähigkeiten, die nicht ohne Verluste oder | |
| Beschädigung seines spezifischen Charakters munter getauscht werden können. | |
| Mir kommt bei solchen Debatten immer die Heiner-Müller-Anekdote über die | |
| russische Ballett-Ikone Anna Pawlowna in den Sinn: „Also die Pawlowa wurde | |
| gefragt, was sie mit einem bestimmten Tanz sagen wollte, und da sagte sie, | |
| wenn sie das anders hätte sagen können als durch diesen Tanz, dann hätte | |
| sie sich nicht dieser Strapaze unterzogen.“ | |
| Wenn die Kunst die Massen für den guten oder den schlechten Zweck | |
| mobilisiert, dann habe ich aber gar nichts dagegen, im Gegenteil. Die Kunst | |
| soll tun, was sie kann, sie soll wirken, wie sie wirkt. [2][Mindestens | |
| 65.000 Menschen, die in Chemnitz, ein Konzert besuchend, gegen Rassismus | |
| protestieren,] sind besser als 65.000 Menschen, die das nicht tun. Die | |
| Frage ist nur: Was sagt das über den Zustand der Politik in diesem Land | |
| aus, über ihre Mobilisierungsfähigkeit? | |
| Für die Selbstverständlichkeit, dass Menschenjagden gerade in einem in | |
| diesem Metier erfahrenen Land wie Deutschland keinen Platz haben dürfen, | |
| hat die sächsische Politik in den letzten 28 Jahren genau nichts getan. Wie | |
| man es sonst nur von Politikern in den mafiaverseuchten Gegenden | |
| Süditaliens kennt wurde geleugnet und verharmlost, die heute allenthalben | |
| zum todesmutigen Engagement gegen Totschlägerbrigaden aufgeforderte | |
| Zivilgesellschaft wurde und wird denunziert, drangsaliert und | |
| kriminalisiert. Und wo bleiben eigentlich die reuigen oder wenigstens | |
| nachdenklichen Statementes derjenigen Medienleute, die mit dem Einzug der | |
| AfD in den Bundestag vor allem die Hoffnung verbanden, mit ihr ziehe etwas | |
| mehr dufte Spannung ein in das langweilige deutsche Parlament? | |
| ## Nazis basteln weiter an Strukturen | |
| Aber nein, nun wird fröhlich mitgesungen, von jungen Menschen, die für das | |
| angerichtete Schlamassel nun wirklich am wenigsten verantwortlich zu machen | |
| sind. Der Bundespräsident sonnt sich in ihrem Glanz, die Nazis basteln von | |
| der Staatsmacht ungestört weiter an ihren Strukturen, [3][die Bücher, in | |
| denen angewiesen wird, wie man mit Rechten zu reden habe,] wandern | |
| stillschweigend in den Ramsch und von einem Zustimmungsverlust des | |
| parlamentarischen Arms der besorgten Bürger ist weit und breit nichts in | |
| den Umfragen zu lesen. | |
| Kein Brecht, kein Thomas Mann, keine Irmgard Keun, kein Schönberg und kein | |
| Kurt Weill, kein George Grosz und keine Anita Rée haben die Naziherrschaft | |
| verhindern können. Sie haben Kunstwerke geliefert, die aus ihrer Zeit | |
| geschaffen wurden und in ihre Zeit wirken sollten; die uns heute erfreuen, | |
| erschüttern und ermahnen, die uns reicher und sensibler machen können – | |
| wenn wir uns ihrer Wucht denn auszusetzen bereit sind. | |
| Das kann Kunst. Aber Kunst kann nicht die sächsische Polizei | |
| demokratisieren; Kunst kann nicht das großartige „Wir schaffen das“ mit | |
| Leben, also insbesondere mit sehr viel Geld füllen. Geld, das dort zu holen | |
| wäre, wo genug da ist – was auf härtesten Widerstand derjenigen, die etwas | |
| abgeben müssen, stoßen würde, wie wir alle noch von der völlig aus dem | |
| Ruder gelaufenen Polemik gegen den Mindestlohn im Gedächtnis haben. Dass | |
| der Willi erschlagen worden ist, [4][wie Konstantin Wecker nun wieder auf | |
| allen Kanälen singen soll,] war gestern, genauer gesagt, 1977. | |
| Damit er nicht wieder und wieder sterben muss, muss jemand heute endlich | |
| zuhören und dem Mörder in den Arm fallen. Und das muss tun, wer das | |
| Gewaltmonopol für sich beansprucht – der Staat – und das muss einfordern, | |
| wer über die Lautsprecherqualitäten dazu verfügt, die Medien. Denn Kunst | |
| ist schön, macht, mit Karl Valentin gesprochen, aber viel Arbeit – und hat | |
| damit weiß Gott genug zu tun. | |
| 6 Sep 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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