| # taz.de -- NS-Gedenken in der Kunst: Wie ein völkisches Betriebssystem | |
| > Eine Ausstellung in Darmstadt fragt nach unserem Umgang mit dem NS. Seit | |
| > dem 7. Oktober erhält es eine unheilvolle Aktualisierung. | |
| Bild: Ausschnitt eines DDR-Plakats: „20. November 1945“ von Leon Kahane, 20… | |
| Ein gelber Minibus fährt in Schrittgeschwindigkeit durch Tiflis. Die | |
| aufgebrachte Menge raunt. Da sind sie drin! Ihr Zorn will sich entladen, | |
| doch nicht alle kommen sie hin zu den Menschen, die einige Polizisten | |
| allenfalls notdürftig schützen. | |
| Kurz zuvor hat ein Mob das Pride-Festival gestürmt. Schwulenfeindliche | |
| Parolen brüllt man nun jenen verängstigten TeilnehmerInnen entgegen, die im | |
| Bus sitzen und hilflos mitansehen müssen, wie die Scheiben eingeschlagen | |
| werden. Der Horror beginnt mit jedem Abbrechen einer Szene von Neuem. | |
| Fünfzehn verschiedene Found-Footage-Aufnahmen hat Soso Dumbadze für seine | |
| Videoarbeit „A Yellow Bus“ (2017) zusammengetragen. Ursprünglich als | |
| räumliche 15-Kanal-Installation angelegt, wird sie jetzt als lineare | |
| Projektion in der Kabinettausstellung „in situ“ der Kunsthalle Darmstadt | |
| gezeigt. | |
| Die Schau will Antworten in der zeitgenössischen Kunst suchen, wie an die | |
| Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert werden könnte. Konzipiert wurde | |
| sie weit vor den aktuellen Ausschreitungen, die der Terroranschlag der | |
| Hamas am 7. Oktober bei Protesten hierzulande zur Folge hat. Jetzt, bei der | |
| Eröffnung, herrscht eine gewisse Sprach- und wohl auch Hilflosigkeit. Dabei | |
| ist ja kein Ausstellungshaus zu außenpolitischen Statements verpflichtet. | |
| Statt wie sonst allerorten halbherzig und halbinformiert über den Nahen | |
| Osten zu diskutieren, wird hier immerhin viel naheliegender überlegt, wieso | |
| der bemerkenswert offen ausagierte Hass gegen Jüdinnen und Juden weltweit | |
| als so selbstverständlich empfunden wird. | |
| ## Der NS als Klassenfeind | |
| [1][Künstler Leon Kahane benennt] beim Eröffnungstalk den Elefanten im | |
| Raum. Anhand seiner ausgestellten Arbeiten, für die er auf eine Sammlung | |
| mit politischen Plakaten aus der ehemaligen DDR zurückgriff, macht er einen | |
| Kitt aus: „Antisemitismus als völkisches Betriebssystem“. Bezogen auf die | |
| DDR bedeutete dies, dass der „Klassenfeind“ im Moment der Neuerfindung | |
| eines Selbstbilds für den realsozialistischen Staat mit dem NS | |
| gleichgesetzt werden musste: ergo mit dem Westen. | |
| „Es herrschte ein fundamentales Missverständnis darüber, was eigentlich der | |
| Nationalsozialismus war“, so Kahane. Reale Opfer wurden in dieser Logik | |
| häufig ein zweites Mal unsichtbar gemacht. | |
| Die Journalistin und taz-Autorin Anastasia Tikhomirova bestätigt dies bei | |
| dem Gespräch. Ihre Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, „wo dann | |
| aus dem Nationalsozialismus der Faschismus wurde“ (auch der | |
| Ausstellungstext setzt bisweilen die Begriffe synonym) und Juden explizit | |
| nicht als Opfer dieser Ideologie benannt wurden. Ähnliche „ideologische | |
| Verdrehungen“ sieht Kahane heute im postkolonialen Denken westlicher | |
| Prägung. | |
| Die Kritik am Postkolonialismus allein will Simon Nagy beim Eröffnungstalk | |
| nicht stehenlassen. Er gehört der Wiener Gruppe Schandwache an, die sich | |
| mit [2][dem Denkmalsturz einer Statue] des österreichischen Politikers und | |
| Antisemiten Karl Lueger (1844–1910) auseinandersetzt. Auch Nagy ist | |
| fassungslos, „dass Menschen, die sich täglich damit beschäftigen, was es | |
| heißt, Bilder oder Text zu produzieren, jetzt diesem Denken anheimfallen“. | |
| Das betreffe keineswegs nur die Kunstwelt. | |
| ## Von der Unmöglichkeit, Bücher respektvoll zu entsorgen | |
| So lohnt diese kleine Ausstellung vielleicht gerade, wenn sie keine | |
| Antworten auf ihre eigene Aktualisierung findet und somit keine erlösende | |
| Katharsis von der Geschichte und ihren Kontinuitäten. Kahanes | |
| ausschnitthaft vergrößertes, jeglichem Kontext entzogenes DDR-Plakat ziert | |
| die Vorschau: Eine weiße Taube flattert über blauen Grund. Wer kann schon | |
| etwas gegen Frieden haben, fragt der Künstler rhetorisch. Der Kitsch liegt | |
| nicht weit. | |
| Abie Franklins sehenswerter Video-Essay handelt von der Unmöglichkeit einer | |
| respektvollen Entsorgung von Büchern (und von der Bücherverbrennung als | |
| verbindendes Element der autoritären Herrschaft). Jonas Höschl setzt | |
| Kriminalromane von E. W. Pless hinter Milchglas – seines Namens laut | |
| Wikipedia in den 1970er Jahren „Neonazi, PLO-Mitglied und Beschaffer von | |
| Waffen für palästinensische Terroranschläge“. Ebenfalls unter Glas | |
| versteckt sich eine Ausgabe der Sunday Times, die stolz die Verpflichtung | |
| Leni Riefenstahls als abermalige Fotografin der Olympiade verkündet. | |
| Der Weg hinausführt dann wieder vorbei an Dumbadzes „A Yellow Bus“, der | |
| seinen Insassinnen und Insassen keinen echten Schutz vor den Entfesselten | |
| verspricht. Jeder Ausschnitt zeigt einen anderen Winkel auf das Geschehen. | |
| Wer nicht hört, was die Menge skandiert, und ihre bedrohlichen Arme nicht | |
| sieht, die nach den Menschen im Bus greifen, könnte sie leicht für soziale | |
| Gerechtigkeitskämpfer halten. | |
| Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Anastasia | |
| Tikhomirova sei in der Sowjetunion geboren worden. Das trifft nicht zu, die | |
| Stelle wurde geändert. | |
| 9 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina J. Cichosch | |
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