| # taz.de -- Oper um Taten des NSU in Hannover: Gesungener Terror | |
| > Mit Ben Frosts „Der Mordfall Halit Yozgat“ ist die erste Oper | |
| > uraufgeführt worden, die um Taten des NSU kreist. Und um die Lücken in | |
| > den Ermittlungen. | |
| Bild: Als toter Halit Yozgat liegt Tahnee Niboro auf der Bühne der Staatsoper … | |
| Zum Schluss – ein Ende ist das nicht! – sind alle Wände gefallen. Das durch | |
| einen Modulbau aus holzgerahmten Papierwänden maßstabsgetreu rekonstruierte | |
| Internetcafé in der Holländischen Straße 82 in 34127 Kassel, Tatort im | |
| „Mordfall Halit Yozgat“ und Schauplatz von Ben Frosts Oper dieses Titels, | |
| war im ersten Bild noch eine den Publikumsaugen verschlossene weiße Box | |
| gewesen. Jetzt ist es Element für Element abgetragen worden, und über die | |
| von Lisa Däßler und Mirella Weingarten für die Uraufführung an der | |
| Staatsoper Hannover entworfene Bühne ziehen Nebelschwaden. | |
| Instrumentalist*innen tauchen im Hintergrund auf. Vereinzelte | |
| Schneeflocken trudeln ins Schwarz. | |
| „Das ist Deutschland!“, hatte eine der Figuren zuletzt noch einmal mehr | |
| geschrien als gesungen. Auf klägliches Piano sind nun im Rest des siebten | |
| Durchlaufs derselben einzigen Szene, die dieses Stück kennt, die Stimmen | |
| alle reduziert. Ihre Melodiefragmente überdröhnt ein eisiges Windgeräusch. | |
| Den Platz der sieben Menschen, die am 6. April 2006 während des Mordes an | |
| dem 21-jährigen Ladenbetreiber im Geschäft waren, haben in Schneetarnanzüge | |
| gehüllte stumme Gestalten eingenommen: Der einzige Zeuge, der den Täter | |
| damals sah, hatte ihn als Person in heller Kleidung wahrgenommen. Größe | |
| unbestimmt. Gesichtslos. Mörderphantome. Und dann geht es nicht weiter. | |
| Es könnte auch von vorne beginnen, erneut, zum achten Mal, unendlich oft, | |
| wie in einer antiken Hölle. Mehr als am Anfang wissen wir nicht. Die | |
| Sinnlosigkeit der Tat ragt ungeheilt in die Welt. Wir alle sind Zeugen – | |
| und können doch nichts sagen. | |
| Oper vermag stummes Publikum in ihr Geschehen zu involvieren, nicht auf dem | |
| Wege der Illusion – wer hielte Personen für real, die in höchster Not | |
| singen –, sondern der Reflexion, oder basaler: der Wiederholung. Denn Musik | |
| entsteht ja nur dort, wo Klang- und Geräuschereignisse mehrfach | |
| reproduziert werden. Dieses Grundprinzip hat der in Australien geborene | |
| isländische Komponist Ben Frost für seine zweite Oper radikalisiert. Eine | |
| Auftragsarbeit, aber die Stoffwahl kam von ihm, wie Intendantin Laura | |
| Berman erklärt: „Ich bin dagegen, Künstler*innen ihre Themen | |
| vorzugeben.“ | |
| Eine Oper zum Terror des rechtsextremen NSU fehlte bislang: | |
| Sicherheitsbehörden und Justiz hatten die Aufklärung der Taten nur | |
| unvollkommen geleistet. Und das Bedürfnis der Hinterbliebenen nach mehr als | |
| nur einem lapidaren Urteil können sie ohnehin nicht befriedigen. Diese | |
| bleibende Wunde beschäftigt die darstellenden Künste schon seit 2012. Ihre | |
| Akteur*innen von der Wiener Nobelpreisträgerin bis zum norddeutschen | |
| Kleinstperformer haben andere Ansätze gesucht, die Mordserie zu verhandeln | |
| und danach zu fragen, was sie ermöglicht hat. | |
| Eins der bekanntesten Ergebnisse dieser Suchbewegung hat Frost als | |
| Ausgangspunkt gewählt. Der Ablauf des Bühnengeschehens, auch das kluge | |
| synoptische Libretto der Dichterin Daniela Danz, stützt sich auf Ergebnisse | |
| des Projekts „77SQM_9:26MIN“, die 2017 bei der documenta präsentiert | |
| wurden. Im Auftrag des Netzwerks „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ hatte die | |
| Londoner Recherche-Agentur Forensic Architecture die 9 Minuten und 26 | |
| Sekunden rekonstruiert, innerhalb derer Halit Yozgat erschossen wurde. Auch | |
| um Verfassungsschutzmann Andreas Temme als Lügner zu enttarnen: Er war bei | |
| der Tat anwesend im Internetcafé. Er hat es kurz danach verlassen. Er | |
| bestreitet, irgendetwas mitgekriegt zu haben. Mehr wird man erst seiner | |
| Akte entnehmen können. Dass diese nur noch bis 2044 und nicht mehr bis ins | |
| Jahr 2134 gesperrt bleibt, ist ein geringer Erfolg. [1][Die Aufklärung] | |
| bleibt so ins Überzeitliche entrückt. Dank ihres Zugs zum Monumentalen | |
| scheint Oper darauf als Kunstform die richtige Antwort: Sie kann dafür | |
| sorgen, dass die Zeit stillsteht. | |
| Solche Ekstase traut man oft den großen Sterbe- und Schicksalsarien zu und | |
| bombastischen Chören. Frosts Ansatz ist im Gegenteil analytisch und | |
| antivirtuos: In seiner Konzeption müssen alle Akteur*innen alle Figuren | |
| einmal übernehmen. Jede Person tritt mal als Bass, mal als Bariton, als | |
| Mezzo, als Sopran und als Tenor auf und als Sprecher. Dafür setzt er, sonst | |
| Fachmann für Electronic-Soundscapes, ganz auf analoge Klangerzeugung: | |
| Florian Groß dirigiert ein verdoppeltes Streichquintett plus Schlagwerk. | |
| Die Gesangstimmen interagieren nicht. Sie haben allenfalls einen | |
| diatonischen Grundkonsens an einem Ort des Durchgangs, an dem es keine | |
| Stille gibt: ständige Taktwechsel, Akzentverlagerungen, stetig bellt die | |
| Große Trommel. Aber in dieser dräuenden Unruhe passiert nichts. Auf einem | |
| Ton verharren meist die Gesangslinien, ab und an gibt es formelhafte | |
| Motive. Das schafft Spannungen, verhindert aber jeden Spannungsbogen. Die | |
| zwei Schüsse, die irgendwann fallen, sind diskrete Schläge, beiläufig fast, | |
| eine akustische Mikrohandlung. | |
| Sinn kann so nicht behauptet werden. Unausweichlich aber ist die Wahrheit: | |
| Siebenmal entdeckt Ismail Yozgat die Leiche seines Sohnes. Siebenmal steht | |
| er vor der Frage, was geschehen sein mag. Wir kommen der Antwort nicht ein | |
| My näher: Es ist zum Verzweifeln. Frosts Oper schafft dieser Verzweiflung | |
| angemessenen Raum. Einen notwendigen Raum. | |
| 3 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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