| # taz.de -- Kinofilm von Nuri Bilge Ceylan: Der Ort spricht mit | |
| > „Winterschlaf“ bietet Einblicke in die Gedanken und Gefühle eines Mannes, | |
| > der im kalten Kappadokien um seinen sozialen Status kämpft. | |
| Bild: Entstanden ist auch ein subtiles Gesellschaftsporträt der heutigen Türk… | |
| Jeder Drei-Stunden-Film ist eine Herausforderung an den Zuschauer. Aber ein | |
| Film wie Nuri Bilge Ceylans „Winter Sleep“ verlangt ihm immer noch ein | |
| bisschen mehr ab. Nicht nur Konzentration, um den langen, verschlungenen | |
| Dialogen zu folgen, und Durchhaltevermögen, um bei all den ausgebreiteten | |
| Details den Überblick zu bewahren, sondern zum Dritten auch so etwas wie | |
| Widerstandskraft: Man soll sich hier eben nicht dem Sog der schönen, | |
| melancholischen Bilder ergeben, sondern wachen, kritischen Geistes | |
| dabeibleiben. | |
| Man könnte auch sagen, dass „Winter Sleep“ von seinen Zuschauern in etwa | |
| die Haltung fordert, mit der geübte Leser einen 500-Seiten-Roman angehen. | |
| Tatsächlich fühlt man sich am Ende des Films ein wenig, als hätte man einen | |
| Dostojewski-Band verschlungen: Man ist in etwas reingezogen worden, man hat | |
| eine gewisse Wegstrecke mit vorher unbekannten Figuren verbracht, mit ihren | |
| Gedanken und Gefühlen, und bleibt nun zurück, voller Ahnungen und Urteile, | |
| aber auch im Ungewissen darüber, wie es mit ihnen weitergeht. | |
| Die ersten Aufnahmen, in denen die Kamera in Weitwinkelansichten die | |
| spektakuläre, bizarre Schönheit der Tuffsteinlandschaft Kappadokiens | |
| einfängt, funktionieren gewissermaßen wie die Einladung eines allwissenden | |
| Erzählers, an diesem Ort ein wenig zu verweilen und zu beobachten. Mit | |
| einer der Figuren betritt man eines der Häuser, es erweist sich als | |
| geschmackvoll-sparsam ausgestattetes Hotel. Seine Zimmer sind in den | |
| weichen Tuff geschlagen, aus abgerundeten Fenstern bieten sich malerische | |
| Ausblicke auf die Höhlen, Häuser und Türmchen des Dorfes. | |
| Der Hotelbesitzer ist ein Mann von knapp 60 Jahren, mit grauen Haaren und | |
| zauseligem Bart. Aydin (Haluk Bilginer) hat 25 Jahre lang als Schauspieler | |
| in Istanbul gearbeitet, bevor er zusammen mit seiner jungen Frau Nihal | |
| (Melisa Sözen) und seiner Schwester Necla (Demet Akbag) hierher in die | |
| Provinz zurückkehrte, um das väterliche Erbe anzutreten. Zu dem gehören | |
| nicht nur das schlichte Hotel, sondern weitere Länder und Häuser in der | |
| Umgebung. Mit anderen Worten: Aydin und seine Familie sind reich, er ist | |
| ein Mann mit Privilegien. | |
| ## Belastendes Herr-Knecht-Verhältnis | |
| Was Aydins gesellschaftlicher Status so mit sich bringt, das zeigt Nuri | |
| Bilge Ceylan in erster Linie durch die Art und Weise, wie er mit seiner | |
| Umgebung interagiert und kommuniziert. Da ist der Umgang mit seinem | |
| Angestellten Hidayet (Ayberk Pekcan), den Aydin einerseits übervertraulich, | |
| andererseits willentlich wortkarg abkanzelt, stets mit dem Gestus, dass ihm | |
| sein eigener Herrenstatus und das Anweisungen-Aussprechen unangenehm sei. | |
| So gibt sich Hidayet wiederum in leicht schmierigem Übereifer Mühe, den | |
| Wünschen seines Chefs stets zuvorzukommen, was das zwischen ihnen | |
| herrschende Herr-Knecht-Verhältnis aber umso stärker hervortreten lässt. | |
| Auf der anderen Seite sind da die Hotelgäste, deren Kontakt Aydin sucht, | |
| als wolle er den überkommenen patriarchalischen Strukturen entgehen, die er | |
| für sich so unangemessen empfindet. Mit vorgespielter Weltläufigkeit will | |
| er sie beeindrucken und merkt doch nie, wie er die Gäste mit seiner | |
| gewollten Kameraderie gleichzeitig bedrängt. | |
| Das sind noch längst nicht alle Fronten, an denen Aydin um seinen Status | |
| und sein Ansehen kämpft. Schließlich gibt es noch die Dorfgemeinschaft, | |
| bestehend aus alten Bekannten und auch neuen Gesichtern, denen Aydin mit | |
| der Pose des philosophierenden Wohltäters imponieren will. Und zuletzt | |
| wären da noch die Schwester und die Ehefrau, denen gegenüber er bemüht ist, | |
| eine Fassade von Großzügigkeit und Zuneigung aufrechtzuerhalten. | |
| ## Die Wahrheit drängt sich auf | |
| Die Zeit von etwas über drei Stunden nutzt Nuri Bilge Ceylan in präzis | |
| getakteter Ökonomie, um all diese Haltungen seines Hauptprotagonisten einer | |
| genauen Analyse zu unterziehen. Stets beginnt es mit Alltagsverrichtungen, | |
| aus denen sich an entscheidender Stelle überraschend ein längeres Gespräch | |
| ergibt – das nach und nach eskaliert. Die Schwester, die Frau, der Nachbar, | |
| sie alle fühlen sich irgendwann dazu gedrängt, Aydin die Wahrheit darüber | |
| ins Gesicht zu sagen, was sie von ihm denken. | |
| Das mag sich eintönig anhören, aber Nuri Bilge Ceylan versteht es, seinen | |
| Schauspielern jenen Raum zur Entfaltung zu geben, in dem Nuancen in aller | |
| Ambivalenz zu ihrem Recht kommen. Sie erzeugen den erwähnten | |
| quasiliterarischen Sog, der hineinzieht in diese Welt der Kleinigkeiten und | |
| kleinlichen Gefühle, die so banal wie universal sind. Dabei besteht die | |
| große Kunst von Hauptdarsteller Haluk Bilginer darin, seinem Aydin trotz | |
| aller Oberflächlichkeit und Eitelkeit einen Kern von Zurückhaltung und | |
| authentischem Verlangen zu verleihen, der ihn zutiefst menschlich | |
| erscheinen lässt. | |
| „Winterschlaf“ besteht aus zwei Extremen, die man im Kino oft gegeneinander | |
| ausspielt, die Nuri Bilge Ceylan aber auf einmalige Weise zusammenführt: | |
| Das sind einerseits die langen Dialoge und der Wert, der hier auf den | |
| Worten liegt, auf dem Ausgesprochenen, dem für sich genommen etwas | |
| Theatrales anhaftet. Und das sind andererseits die sorgfältig gezeichneten | |
| Bilder (Ceylan arbeitet hier erneut mit Kameramann Gökhan Tiryaki), die | |
| visuell und atmosphärisch jeden Eindruck des Theaterhaften widerlegen. | |
| Die ausführlichen Gespräche stehen in eigentümlicher Spannung zu den | |
| pittoresken Aufnahmen. Das winterliche Kappadokien ist mehr als nur | |
| Kulisse. Der Ort spricht gleichsam mit. Man hört das Knistern des | |
| Kaminfeuers, das Dribbeln des Regens, das Scharren auf gefrorenem Grund – | |
| es sind nicht zuletzt solch stimmungsvolle Details, die dem Film ein | |
| fesselndes Hier und Jetzt verleihen. Und damit eben auch eine soziale | |
| Konkretheit, aus der ein subtiles Gesellschaftsporträt der heutigen Türkei | |
| erkennbar wird. | |
| ## Den Abgrund vertiefen | |
| Denn darauf läuft es hinaus: Der „Winterschlaf“ des Titels bezieht sich | |
| weniger auf den in falschen Vorstellungen seiner selbst eingelullten Mann | |
| im Zentrum als auf die gesellschaftlichen Strukturen, die durch seine | |
| Bewegungen, seine Handlungen und Unterlassungen im Film sichtbar werden. | |
| Nur scheinbar im Widerspruch dazu steht, dass Ceylan als Drehbuchvorlage | |
| seines Films Tschechow und seine Kurzgeschichten angibt. | |
| Nicht nur Tschechows selbstmitleidige, skeptische, sich mit den eigenen | |
| Verwerfungen demütig abfindende Figuren lassen sich hervorragend in die | |
| Gegenwart übersetzen. Die feudalen Strukturen von Russland um 1900, die er | |
| seine Figuren beklagen und beschwören lässt, passen erschreckend genau auf | |
| die der Türkei heute. | |
| Es geht nicht allein um den Gegensatz von Arm und Reich, sondern um die | |
| geistigen Haltungen, die von Besitz und Privilegien zementiert werden. Die | |
| Almosen und das Mitleid der Reichen, der Fleiß und die Arbeit der Armen – | |
| sie vertiefen nur immer wieder den Abgrund. | |
| Eine der zentralen und dabei schockierendsten Szenen in „Winterschlaf“ aber | |
| scheint mehr vom manischen Dostojewski als vom milden Tschechow zu kommen: | |
| Da weist eine der armen und „elenden“ Figuren eine gute Gabe auf eine Weise | |
| zurück, die so unerhört ist, dass sie für einen Moment tatsächlich das | |
| gesellschaftliche Korsett aufsprengt. Allein wegen dieser Szene und ihrer | |
| so allmählichen wie sorgfältigen Vorbereitung lohnt es sich, „Winterschlaf�… | |
| mindestens zweimal anzuschauen. | |
| 11 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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