| # taz.de -- Die Sieger des Filmfestivals von Cannes: Der Wahrheit entgegen | |
| > Im starken Jahrgang der 76. Filmfestspiele von Cannes gewann die | |
| > Regisseurin Justine Triet die Goldene Palme. Ihr Film ist ein | |
| > Justizdrama. | |
| Bild: Die Regisseurin Justine Triet mit ihrer Goldenen Palme für „Anatomie d… | |
| Eine Frau, ein Mann und ihr junger Sohn. Dazu ein Hund und ein entlegenes | |
| Chalet im Winter. Den Mann dieser Geschichte bekommt man zum ersten Mal als | |
| Leiche zu sehen. Er ist aus dem Dachbodenfenster des Chalets gestürzt. Die | |
| Frau wird in der Sache wenig später vor Gericht erscheinen. Als Angeklagte. | |
| [1][„Anatomie d'une chute“, mit dem die französische Regisseurin Justine | |
| Triet] am Sonnabend die Goldene Palme der 76. Filmfestspiele von Cannes | |
| gewonnen hat, ist auf den ersten Blick ein klassisches Justizdrama. Der | |
| Großteil seiner Handlung spielt im Gerichtssaal, und es geht um die Frage, | |
| wie sich in einem Todesfall ohne Zeugen die Wahrheit finden lässt. Doch je | |
| weiter der Prozess voranschreitet, wird diese „Anatomie eines Falls“ zur | |
| Anatomie einer Beziehung, lotet die Kräfteverhältnisse zwischen den | |
| Partnern aus, mit dem Ziel, beiden Seiten gerecht zu werden. | |
| Dass sich die Jury des Wettbewerbs mit dem schwedischen Regisseur Ruben | |
| Östlund als Vorsitzenden auf diesen Film einigen konnte, mag mit der | |
| nuancierten Dramaturgie zu tun haben, in der die Frage nach der Wahrheit | |
| mehr und mehr ihren Gegenstand wechselt. Obwohl es im Prozess darum geht zu | |
| klären, ob der Tod des Mannes ein Mord oder ein Suizid war, entwickelt sich | |
| die Verhandlung allmählich hin zur Rekonstruktion dessen, wie zwei Partner | |
| miteinander um Anerkennung und ihren Platz in der Familie gerungen haben, | |
| nicht immer mit fairen Mitteln. | |
| Sandra Hüller spielt die Angeklagte Sandra, eine erfolgreiche | |
| Schriftstellerin, und lässt sie in so vielen Facetten schillern, dass man | |
| eine reale, faszinierend schwierige Künstlerpersönlichkeit auf der Leinwand | |
| zu erleben meint. Ihre Darbietung hat einigen Anteil am Gelingen des Films, | |
| der als möglicher Favorit dieses insgesamt starken Jahrgangs gegolten | |
| hatte. | |
| ## Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit stets unsichtbar | |
| Viele Kritiker waren sich jedoch vorab sicher gewesen, dass der | |
| [2][englische Regisseur Jonathan Glazer für „The Zone of Interest“] den | |
| Wettbewerb gewinnen würde. Seine als Satire angelegte Verfilmung von Martin | |
| Amis' gleichnamigem Roman zeigt das Leben der Familie des Lagerkommandanten | |
| Rudolf Höss, wie sie ihr vermeintliches Idyll mit stattlichem Wohnhaus und | |
| weitläufigem Garten direkt an der Mauer des KZ Auschwitz genießen, die | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit stets unsichtbar, von rauchenden | |
| Schornsteinen abgesehen, aber in Hörweite. | |
| Die kalte, klare Strenge des Films, ebenfalls mit Sandra Hüller, und zwar | |
| als Hedwig Höss, übt eine perverse Faszination aus, was die Jury so weit | |
| überzeugte, dass sie ihm mit dem Großen Jurypreis die zweitwichtigste | |
| Auszeichnung zusprach. | |
| Triet und Glazer gehören zu der mittleren Generation der im Wettbewerb | |
| vertretenen Filmemacher. Auch die in Cannes oft zahlreichen älteren, | |
| vorwiegend männlichen Kollegen gingen keinesfalls leer aus. So erhielt der | |
| [3][Finne Aki Kaurismäki für seine „Fallen Leaves“] den Jurypreis, ein | |
| elegantes, etwas routiniertes Alterswerk. Und der [4][Japaner Hirokazu | |
| Koreeda, der in „Monster“] eine mutmaßlich schwule Geschichte zweier | |
| schwieriger Schüler perspektivisch verwirrend auffächert, bekam zwar | |
| persönlich keinen Preis, dafür hingegen sein Autor Yuji Sakamoto für das | |
| beste Drehbuch. Ein verdienter Preis. | |
| Bei der starken Konkurrenz mag es den Juroren schwer gefallen sein, allen | |
| Filmen gerecht zu werden. Dass der türkische Film „About Dry Grasses“ von | |
| Nuri Bilge Ceylan am Ende den Preis für die beste Schauspielerin erhielt, | |
| mag nicht alle Stärken dieser Geschichte um Lehrer an einer Provinzschule | |
| berücksichtigen, für die Darbietung von Merve Dizdar als Lehrerin, die als | |
| Opfer eines Terroranschlags ein Bein verloren hat und zwischen Verhärtung | |
| und Verletzlichkeit schwankt, war er allemal angemessen. | |
| Eine würdige Ehrung für einen still poetischen Film, wieder eines | |
| Altmeisters, ist der Preis für den besten Schauspieler, der an den | |
| [5][Japaner Kōji Yakusho für seine Hauptrolle in Wim Wenders' „Perfect | |
| Days“] ging. Sein Part als wortkarge Toilettenputzkraft war eine der | |
| schönsten Überraschungen des Festivals. | |
| ## Selbstsicheres Erzählkino | |
| Über die Zukunft des Kinos war in der Pandemie verstärkt spekuliert worden, | |
| dessen Krisen haben sich seitdem keinesfalls erledigt. Eine Krise des | |
| Erzählens, von der in Zusammenhang mit der Berlinale im Frühjahr viel die | |
| Rede war, ließ sich in Cannes allenfalls als Randerscheinung wahrnehmen. | |
| Etwa wenn Martin Scorsese in seinem jüngsten, in Cannes außer Konkurrenz | |
| präsentierten Film, „Killers of the Flower Moon“, über dreieinhalb Stunden | |
| von Gewalt gegen den Stamm der Osage in Oklahoma erzählt, allerdings im | |
| Vergleich zu seinen früheren Filmen einiges an Spannung oder eigenwilliger | |
| Inszenierung vermissen lässt. | |
| Andererseits gab sich das Erzählkino sogar in den weniger formstrengen | |
| Sektionen wie der unabhängigen „Quinzaine des cinéastes“, die bis zum | |
| vergangenen Jahr „Quinzaine des réalisateurs“ hieß, erfreulich | |
| selbstsicher. Etwa in Cédric Kahns „Le procès Goldman“, einem weiteren | |
| Justizdrama, das sich minimalistisch auf das Geschehen im Gerichtssaal | |
| beschränkt und dabei viel über Antisemitismus in Frankreich und die | |
| Radikalisierung der Linken nach 1968 zu erkennen gibt. | |
| [6][In Deutschland kaum noch bekannt, hatte der Schriftsteller und | |
| „jüdische Radikale“ Pierre Goldman] nach seiner Studentenzeit als | |
| Guerrillero in Venezuela gekämpft und später, zurück in Frankreich, mehrere | |
| Raubüberfälle begangen. Ihm wurde zudem der Mord an zwei Apothekerinnen zur | |
| Last gelegt, vom Prozess dazu handelt Kahns Film. Er zeigt in den | |
| Verhandlungen vor allem eine parteiische Polizei, deren Ermittlungen als | |
| fragwürdig dargestellt werden. Und er zeigt einen Angeklagten, der mit | |
| ätzend scharfem Verstand die Richter und Anklage aus der Fassung bringt, | |
| seine Verteidigung mitunter ebenso. | |
| ## Kino im Namen der Proteste im Iran | |
| Ein starkes Debüt, gleichfalls in der Quinzaine, war der Film „The Feeling | |
| That the Time for Doing Something Has Passed“ der New Yorker Regisseurin | |
| Joanna Arnow, die selbst die Hauptrolle übernommen hat. Ihre Ann ist eine | |
| Programmiererin, die tagsüber in irgendeinem IT-Unternehmen ihrer Arbeit | |
| nachgeht und sich ansonsten als „Sub“ in unterwürfigen Rollen in | |
| BDSM-Beziehungen erprobt. Klingt expliziter als es die Bilder des Films, | |
| der sich mehr auf die Macht der Worte verlegt, am Ende sind. | |
| Was diese Komödie, denn darum handelt es sich, vor Peinlichkeit bewahrt, | |
| ist die von Arnow verkörperte Haltung, die im Englischen treffend mit | |
| „deadpan“ zu benennen wäre: unbewegt, furztrocken und mit leicht | |
| skeptischem Spott kommentiert Ann ihr Leben und die Ansichten anderer. Von | |
| zwischenmenschlicher Zartheit erzählt sie nebenbei auch noch. Ein Film, dem | |
| man einen Kinostart in Deutschland sehr wünschen würde. | |
| Mehr oder minder explizite Kommentare zur politischen Lage in einzelnen | |
| Ländern waren die Ausnahme. Lobend zu erwähnen ist in dem Zusammenhang der | |
| in der Nebenreihe „Un certain regard“ gezeigte iranische Episodenfilm | |
| „Terrestrial Verses“, dessen Titel auf Salman Rushdies Roman „Die | |
| satanischen Verse“ anspielt. | |
| In festen Einstellungen sieht man stets eine Person, die in Richtung der | |
| Kamera spricht, von wo aus ihr unsichtbares Gegenüber antwortet. Es sind | |
| Menschen, die mit Behörden und anderen Autoritäten zu tun haben, wie ein | |
| Mann, der seinen neugeborenen Sohn David nennen möchte, was ihm der Beamte | |
| aus religiösen Gründen verwehrt. Oder eine Frau, die sich rechtfertigen | |
| muss, weil sie von Überwachungskameras angeblich beim Autofahren ohne | |
| Kopftuch gefilmt wurde. | |
| Die Regisseure Ali Asgari und Alireza Khatami sehen ihre kurze Arbeit als | |
| Intervention im Namen der Proteste im Iran, wie sie bei der Premiere in | |
| Cannes anmerkten. Eine formal konsequente und mit Ironie arbeitende | |
| Intervention, wohlgemerkt. Wie gesagt, es war ein guter Jahrgang. Die | |
| Zukunft des Kinos scheint, von hier aus gesehen, noch nicht Geschichte. | |
| 28 May 2023 | |
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| Tim Caspar Boehme | |
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