# taz.de -- „Orphea in Love“ im Kino: Orphea in der Unterführung | |
> Eine Oper als Kinofilm mit einem Mix aus Gesang, Tanz und Schauspiel: | |
> Axel Ranisch verpasst dem Orpheus-Mythos ein cineastisches Update. | |
Bild: Opernmanager Höllbach (Heiko Pinkowski) | |
„Musik ist das Unsagbare“, hieß es in der Romantik. Und wenn die | |
Call-Center-Mitarbeiterin Nele (Miriam Mesak) mal wieder ohne Grund von | |
ihrer garstigen Chefin (Christina Große) gepiesackt wird, steht sie nicht | |
etwa auf und argumentiert. Sondern sie beginnt zu singen – und träumt sich | |
auf den Schwingen ihrer glasklaren Sopranstimme (und mithilfe des in ihrer | |
Fantasie einstimmenden Callcenter-Chors) weit weg. | |
Bei ihrer frustrierenden, gesangsfreien Realität ist das kein Wunder – | |
Nele, die neben dem prekären Telefonjob als Garderobiere in der Oper | |
arbeitet, leidet unter Einsamkeit. Ihre WG besteht aus kichernden jungen | |
Frauen, die Neles wohlklingende Kommunikation nicht verstehen. Darum schaut | |
sie abends sehnsüchtig vom hintersten Rang aus zu, wenn Opernstar Adina | |
(Ursina Lardi) auf der Bühne Arien schmettert. | |
Erst die Begegnung mit dem charmanten Straßentänzer und Taschendieb Kolya | |
(Guido Badalamento) reißt Nele aus dem Trott: Es funkt heftig zwischen der | |
Frau, die lieber singt als spricht, und dem Mann, der lieber tanzt als | |
spricht (sein erstes und einziges Wort fällt in der 77. Minute). Tanz, | |
erlebt man da, kann anscheinend ebenfalls das Unsagbare ausdrücken. | |
Um die vorsichtig wachsende Beziehung zwischen ihnen entsteht schnell das | |
Dilemma eines klassischen (Opern-)Dramas. Denn die erfolgsverwöhnte Diva | |
Adina verliert ihre Stimme, Kolya hat einen schweren Unfall – und Adinas | |
zwielichtiger Manager, ein Mann mit dem sprechenden Namen „Höllbach“ (Heiko | |
Pinkowski) bietet Nele einen Tausch an: Neles Stimme gegen das Leben ihres | |
geliebten Kolya … | |
## Lieber singen oder lieben? | |
[1][Axel Ranisch ist Film- und Opernregisseur und großer Aficionado von | |
beidem.] Sein Versuch, die Oper mit „Orphea in Love“ aus ihrer | |
klassistischen Abgehobenheit auf den Asphalt zu holen und auf allen Ebenen | |
nahbar zu machen, kreist um die Frage, was besser ist: nicht mehr singen, | |
aber glücklich lieben zu können? Oder die schönste Stimme der Welt zu | |
haben, aber ein gebrochenes Herz? | |
In seiner „Orpheus“-Variante spielt Ranisch gekonnt und mithilfe des | |
Knowhows von Mitgliedern der Bayerischen Staatsoper mit den Eckpunkten und | |
Symbolen der aus der griechischen Mythologie stammenden und in vielen Opern | |
bearbeiteten Orpheus-Sage: Nele ist Orphea – schüchtern, introvertiert, | |
aber sehr weltlich. | |
Die Unterwelt, in die sie sich begibt, um die Nymphe Eurydike alias Kolya | |
zu retten, erinnert verdächtig an eine mit Graffiti verzierte Unterführung. | |
Ranischs Inszenierung mit den Profis der Staatsoper, der estnischen | |
Sopranistin Mesak und dem Profitänzer Badalamenti komponiert archetypische | |
Figuren (Held:in, Nymphe, Teufel) zu einem fulminanten, theatralischen und | |
aufregend gefilmten Mix aus Gesang, Tanz und Schauspiel. | |
Dabei setzt Ranisch Filmschauspieler:innen und Sänger:innen | |
gemeinsam ins dramatische Bild und unterstreicht so die Weltlichkeit der | |
Kunstform. Denn während Nele ihre Arien singt, vergnügt sich Kolyas Mutter | |
und Diebesgefährtin Lilo (Ursula Werner) mit ihrem Liebhaber (Rummelsnuff). | |
Auch Nele hat eine handfeste und gar nicht so romantische Vergangenheit: | |
Mitten im Schäferstündchen mit Kolya erscheint ihr ein Mann (Tim Oliver | |
Schultz), der ihr einst in Estland das Herz brach – und der bei einem | |
mysteriösen Unfall ums Leben kam. | |
Ranisch gibt der Oper und ihrem auf Nicht-Opern-Fans möglicherweise | |
artifiziell wirkenden Konzept das, was sie ohnehin enthalten sollte: Wie | |
kaum eine andere Kunstform steht sie für eine Verbindung der verschiedenen | |
Künste. „Orphea in Love“ zelebriert die große (und kleine) Geste, das | |
lustvolle Pathos des klassischen Operngesangs, die Opulenz der Ausstattung | |
und den Straßentanz. Vor allem aber stellt der Film die Liebe (zur Musik | |
und zu einem Menschen) über die Ratio. | |
30 May 2023 | |
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[1] /Axel-Ranisch-ueber-seinen-Film-Alki-Alki/!5246484 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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