# taz.de -- Filmregisseurin über gewalttätige Frauen: „Wie ein weiblicher C… | |
> Ursula Meier dreht ihre Filme vorzugsweise in der Schweiz. Ihr neuester, | |
> „Die Linie“, verhandelt eine gewaltvolle Mutter-Tochter-Beziehung. | |
Bild: Mutter und Tochter: Christina (Valeria Bruni Tedeschi) und Margaret (Sté… | |
Die brutale Handgreiflichkeit zwischen einer erwachsenen Tochter und ihrer | |
Mutter, mit der [1][Ursula Meiers Film „Die Linie“ unvermittelt einsetzt, | |
gehörte auf der Berlinale 2022] zu den eindrucksvollsten Szenen. Nun | |
endlich kommt das Drama, in dem sich die 35-jährige Margaret in der Folge | |
dem Haus der Familie und damit auch ihrer 12-jährigen Schwester nicht mehr | |
als 100 Meter nähern darf, in die deutschen Kinos. Die taz traf dazu die | |
aus der französischen Schweiz stammende und in Belgien lebende Regisseurin | |
in Paris zum Interview. | |
taz: Frau Meier, der Grundgedanke bei Ihrem neuen Film „Die Linie“, den Sie | |
gemeinsam mit Ihrer Hauptdarstellerin Stéphanie Blanchoud geschrieben | |
haben, war, eine Geschichte über weibliche Gewalt zu erzählen. So gaben Sie | |
es zur Weltpremiere auf der Berlinale zu Protokoll. Hegten Sie diesen | |
Wunsch schon lange? | |
Ursula Meier: Tatsächlich schwirrte diese Idee schon lange in meinem Kopf | |
herum, Jahre bevor ich Stéphanie überhaupt kannte. Ich wollte unbedingt mal | |
einen Film drehen über eine weibliche Protagonistin, die kämpft, die | |
physisch und brutal ist. Denn so etwas sieht man im Kino eigentlich nie. | |
Anfangs dachte ich immer, dass das mutmaßlich eine Geschichte über Teenager | |
wird. Doch dann traf ich Stéphanie, die eben nicht mehr jugendlich ist, und | |
plötzlich nahm die Sache eine neue Gestalt an. Wobei ich das Schreiben des | |
Drehbuchs dann als unerwartet große Herausforderung empfunden habe. | |
Warum? | |
Weil ich mich persönlich mit dem Thema Gewalttätigkeit von Frauen | |
eigentlich nicht auskenne. Und es eben auch nicht viele Referenzen dazu | |
gibt. Weibliche Gewalt ist deutlich weniger dokumentiert als männliche, | |
nicht nur im Kino. Es scheint da ein echtes Tabu zu geben, obwohl niemand | |
ernstlich wird bestreiten können, dass es sie gibt. | |
Wie erklären Sie sich, dass dieses Thema so tabuisiert ist? Liegt es | |
schlicht am Frauenbild, das in unserer Gesellschaft bevorzugt wird? | |
Das ist sicherlich eine Erklärung. Frauen sollen liebevoll und mütterlich | |
oder sexy sein, aber nicht brutal. Stéphanie und ich haben uns beim | |
Schreiben schon auch gefragt, ob die Leute eine solche Geschichte überhaupt | |
sehen wollen. Und tatsächlich gab es Leute, die uns berichteten, dass sie | |
eigentlich einen Bogen um „Die Linie“ machen wollten, rein der Thematik | |
wegen. Doch dann war der Tenor fast immer, dass der Film sie am Ende umso | |
mehr berührt habe. Aber um noch mal auf die Frage zurückzukommen: An der | |
gesellschaftlichen Konvention, dass Gewalt und Brutalität männlich | |
konnotiert sind, lässt sich offenkundig schwer rütteln. Für Frauen gibt es | |
da nur wenige Ausnahmen. Die müssen dann schon unter Drogeneinfluss stehen | |
oder in aussichtslosen Schwierigkeiten stecken. Außer natürlich, sie sind | |
schlicht hysterisch! | |
Oder man erzählt Geschichten über Mütter, die um Ihre Kinder kämpfen! | |
Genau. Für sie. Aber nicht gegen sie, was in unserem Film ja auch der Fall | |
ist. | |
Das stimmt. Die von Valeria Bruni Tedeschi gespielte Mutter der | |
Protagonistin ist eigentlich die brutalste aller Figuren, wenn auch eher im | |
psychologischen als im körperlichen Sinne. War es schwierig, sie nicht als | |
komplettes Monster darzustellen? | |
Es bedurfte auf jeden Fall einer gewissen Gratwanderung. Wir mussten, | |
gemeinsam mit Valeria, sicherstellen, dass es zumindest ein paar Momente | |
gibt, wo das Publikum auch mit ihr ein wenig Empathie empfinden kann. Und | |
wo die Figur zumindest ansatzweise realisiert, dass es womöglich nicht die | |
Schuld ihrer Kinder ist, dass sie ihre Karriere als Pianistin vermisst. | |
Schrieben Sie ihr die Rolle auf den Leib? | |
Mehr oder weniger. Ich finde sie als Schauspielerin einfach unglaublich. In | |
meinen Augen ist sie die Gena Rowlands des französischen Kinos. | |
„Die Linie“ ist nicht Ihre erste Drehbuchzusammenarbeit, aber Sie schrieben | |
zum ersten Mal gemeinsam mit Ihrer Hauptdarstellerin, die noch dazu bislang | |
keine Skripterfahrung hatte. Wie gingen Sie vor? | |
Wir begannen mit dem Schreiben gemeinsam. Ganz klassisch eigentlich: Wir | |
saßen zusammen und entwickelten die Figuren, das Setting, den Plot. Das zog | |
sich über einen längeren Zeitraum hin, und irgendwann musste ich eine Pause | |
einlegen, weil ich einen Fernsehfilm drehte. Ich schlug also vor, noch | |
zusätzlich jemanden mit ins Boot zu holen, und unsere Wahl fiel dann auf | |
Antoine Jaccoud, mit dem ich alle meine vorherigen Drehbücher geschrieben | |
hatte. Das war auch deswegen spannend, weil er – nicht nur, aber auch weil | |
er ein Mann ist – auf manches noch mal einen ganz anderen Blick hatte. Von | |
ihm kam auch die Diagnose unserer Protagonistin. | |
Welche Diagnose? | |
Zunächst hatten wir uns nicht so wahnsinnig viele Gedanken darüber gemacht, | |
warum sich diese Frau so aufbrausend, emotional und unberechenbar verhält. | |
Wichtig war uns einfach, dass sie es tut. Aber Antoine las unser Skript | |
und sagte: Ich glaube, Margaret hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. | |
Das half uns enorm. Plötzlich hatten wir etwas Konkretes, wozu wir auch | |
recherchieren konnten. Tatsächlich passte das alles genau in das Bild, das | |
wir von unserer Protagonistin entworfen hatten. Wenn sie sich verletzlich | |
und angreifbar fühlt, reagiert sie darauf mit Aggression statt mit Worten. | |
Und am Ende entschuldigt sie sich dann und will alles am liebsten | |
ungeschehen machen. Das scheint ein sehr typisches Borderline-Verhalten zu | |
sein. Für Stéphanie war diese Diagnose gerade bei der Verkörperung der | |
Figur eine echte Stütze. Daran konnte sie sich festhalten und vor allem | |
auch eine gewisse Distanz zwischen sich und Margaret herstellen. | |
Zugleich gehen mit einer Diagnose auch gewisse Erwartungen seitens der | |
Zuschauer*innen einher, oder? Wie viel Wert legten Sie darauf, dass aus | |
psychiatrischer Sicht alles hieb- und stichfest ist? | |
Oberste Priorität hatte das nicht. Ich wollte die Figur nicht reduzieren | |
auf diese Diagnose oder ein vollständiges Bild des Krankheitsbildes auf die | |
Leinwand bringen. Natürlich haben wir uns in die Thematik eingelesen, und | |
ich habe mich auch mit vielen Menschen unterhalten, die sich damit | |
auskannten und mir über Verhaltensweisen Betroffener erzählen konnten. In | |
manchen Drehbuchfassungen gab es auch deutlich mehr Details dazu, etwa was | |
Margaretes Medikation angeht. Aber wie bei allen meinen Filmen habe ich | |
dann mit Näherrücken des Drehs mehr und mehr Elemente des Buchs wieder | |
weggestrichen oder gekürzt, um mich wirklich auf das Rückgrat der | |
Geschichte zu konzentrieren. | |
Würden Sie eigentlich unterschreiben, dass es Ihr Markenzeichen ist, | |
[2][Filme über familiäre Beziehungen] in den unterschiedlichsten Facetten | |
zu drehen? | |
Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht bewusst. „Die Linie“ war zum | |
Beispiel für mich die längste Zeit erst einmal gar keine | |
Familiengeschichte, sondern ganz eindeutig ein Film über Margaret. Wir | |
haben alles um sie herum gestrickt, sie war der Fokus. Beim Schreiben des | |
Drehbuchs war mein Ansatz deswegen auch zunächst, dass ich keine | |
offensichtliche Erklärung dafür liefern wollte, woher ihre Aggression und | |
Gewaltbereitschaft kommen. Doch je mehr wir uns mit ihr beschäftigten, | |
desto weniger ließen sich die Ursprünge ihres Verhaltens letztlich | |
ignorieren. Und so kamen dann, entgegen meinen anfänglichen Intentionen, | |
eben doch die Mutter und die Familie ins Spiel. Aber in meinem nächsten | |
Film wird es um etwas anderes gehen! | |
Was Ihren Filmen in jedem Fall gemein ist, ist [3][die Schweiz als | |
Setting.] Warum bleiben Sie Ihrer Heimat als Regisseurin so konsequent | |
treu? | |
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zunächst einmal macht es mir Freude, mit | |
all den nicht zuletzt visuellen Klischees zu brechen, die es rund um die | |
Schweiz gibt. Gleichzeitig ist es ein riesiger Vorteil, dass das Land | |
filmisch noch gar nicht so erschlossen, also sozusagen zu Tode gefilmt ist. | |
Man kann immer noch sehr viel Neues zeigen – und auf engstem Raum findet | |
man oft eine enorme Vielfalt an Bildern. In der Gemeinde im Kanton Wallis, | |
wo wir „Die Linie“ gedreht haben, gibt es in einem Radius von 100 Metern | |
nicht nur den Genfer See, den wir im Film allerdings nicht direkt zeigen, | |
sondern der quasi durch eine Werft und eine Fischerei repräsentiert wird. | |
In unmittelbarer Nähe sieht man auch sozialen Wohnungsbau genauso wie | |
typische Einfamilienhäuser für die Mittelschicht, im Hintergrund die Berge | |
und obendrein erstaunlich weite Freiflächen, durch die unsere Protagonistin | |
marschiert wie ein weiblicher Cowboy durch den Wilden Westen. Die | |
Möglichkeiten, die sich mir als Filmemacherin dort bieten, sind enorm. | |
18 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Patrick Heidmann | |
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