# taz.de -- Finale der Berlinale: Festival auf Abstand | |
> Auf der 72. Berlinale gewinnt mit „Alcarràs“ ein Film über Obstbauern in | |
> Katalonien. Das Filmfestival stand im Zeichen der Pandemie. | |
Bild: Die spanische Regisseurin Carla Simon bekam für „Alcarras“ den Golde… | |
„Rrömm, rrömm!“ Mit lautmalerischen Motorengeräuschen probierte die | |
Moderatorin des Abends, Hadnet Tesfai, der Preisverleihung der 72. | |
Berlinale ein bisschen Schwung zu verleihen. Doch die Sache stotterte | |
bestenfalls, von kraftvoller Dynamik war nicht viel zu merken. Was durchaus | |
symptomatisch für die erste Pandemieausgabe der Internationalen | |
Filmfestspiele von Berlin mit halbwegs normalem Kinobetrieb war. | |
Im Vorfeld hatte es [1][Kritik an der Entscheidung des Festivals gegeben, | |
zur üblichen Zeit im Februar wieder Publikum am Potsdamer Platz zu | |
gestatten]. Was den Stand bis jetzt betrifft, muss man wohl von Glück wider | |
Erwarten sprechen. Bisher wurde zumindest nicht bekannt, dass sich Besucher | |
in großem Stil im Gedränge an den Kinoeingängen, zu dem es vereinzelt kam, | |
mit dem Coronavirus angesteckt hätten. | |
Dennoch stand die Berlinale so sehr im Zeichen des Virus, dass um den | |
Berlinale Palast herum kaum etwas von der vorab gern beschworenen | |
Festivalstimmung entstehen wollte. Durch die Routinen aus Maske-Aufsetzen | |
und Tests vorweisen einerseits und das insgesamt zurückhaltendere Treiben | |
andererseits hatte die Atmosphäre etwas notgedrungen Wattiertes und | |
Steriles, eine Berlinale auf Abstand. | |
## Mit Masken vor der Kamera | |
Bei den Filmen dieses Wettbewerbs hielten die meisten Regisseure ebenso | |
Abstand zur Pandemie, gaben in ihren Geschichten von diesem Aspekt der | |
Gegenwart nichts zu erkennen. Mit zwei Ausnahmen: Die französische | |
Filmemacherin Claire Denis, die zum ersten Mal für einen Goldenen Bären | |
angetreten war, und ihr südkoreanischer Kollege Hong Sang-soo ließen als | |
einzige ihre Hauptdarsteller mit Masken vor der Kamera auftreten, ohne das | |
weiter zur Sprache zu bringen. Corona begleitete diese beiden sehr | |
unterschiedlichen Erzählungen lediglich am Rand. | |
In Claire Denis’ „Both Sides of the Blade“ (Avec amour et acharnement) | |
spielen Juliette Binoche, Vincent Lindon und Grégoire Colin die Gefangenen | |
einer verfahrenen Dreiecksgeschichte. Dass man sich überhaupt für die | |
Probleme dieser nicht unbedingt sympathischen Figuren interessierte, lag an | |
den Darstellungen, was die Jury unter dem Vorsitz von Regisseur M. Night | |
Shyamalan mit einem Silbernen Bären für die Beste Regie belohnte. | |
Hong Sang-soo erzählt in „The Novelist’s Film“ (So-seol-ga-ui yeong-hwa) | |
von der Schriftstellerin Junhee (Lee Hyeyoung), die aufgehört hat zu | |
schreiben, und ihrer Begegnung mit der berühmten Schauspielerin Kilsoo (Kim | |
Minhee), die nicht mehr vor der Kamera auftreten will. In der für Hong | |
typischen Weise lässt er seine Protagonisten wie beiläufig einander | |
begegnen, gemeinsam essen, trinken und spazieren gehen und zugleich | |
pointiert die nicht immer einfachen Beziehungen der Beteiligten zutage | |
treten. | |
Diesmal ist es vor allem die wenig diplomatische Art Junhees, mit der sie | |
einen Regisseur auf sein karrieristisches Berufsverständnis hinweist, die | |
für Komik und diskrete Spannung sorgt. Verdient gab es dafür den Silbernen | |
Bären Großer Preis der Jury. | |
## Wunsch nach Nähe | |
Womöglich lag es auch ein wenig an den Begleitumständen, dass bei vielen | |
Filmen keine Euphorie aufkam. Das Schweizer Familiendrama „La ligne“ von | |
Ursula Meier gehörte dabei zu den stärkeren Beiträgen, erzählte vom | |
unerfüllten Wunsch nach Nähe, versinnbildlicht in der titelgebenden Linie, | |
die eine Jugendliche um ihr Zuhause zieht: Ihre Schwester Margaret hat | |
Kontaktverbot erhalten, nachdem sie gegenüber der Mutter gewalttätig | |
geworden ist. Stéphanie Blanchoud brillierte in der Rolle der impulsiven | |
Margaret, Meiers Film ging allerdings leer aus. | |
Sehr eigen und eigenwillig zeigte sich der älteste Teilnehmer des | |
Wettbewerbs, der 90 Jahre alte italienische Regisseur Paolo Taviani, der | |
mit „Leonora addio“ den ersten Film ohne seinen 2018 verstorbenen Bruder | |
Vittorio gedreht hat. Das Schicksal der Urne des Literaturnobelpreisträgers | |
Luigi Pirandello nach dem Zweiten Weltkrieg bildet den Kern seiner | |
Geschichte über Tod und Abschied. Gerahmt ist diese umwegige Reise einer | |
griechischen Amphore mit der Asche des Schriftstellers von zwei Erzählungen | |
Pirandellos. | |
## Letzte Geschichte | |
Als leere Bühne inszeniert Taviani zu Beginn die Kurzgeschichte „Wie ein | |
Tag“, in der ein alter Mann auf dem Sterbebett mit naivem Staunen sein | |
Leben an sich vorüberziehen sieht. Am Ende steht die letzte Geschichte | |
Pirandellos, die dieser kurz vor seinem Tod schrieb, „Der Nagel“, über | |
einen Jungen, der ein Mädchen scheinbar grundlos ermordet und nach seiner | |
Haft bis an sein Lebensende das Grab seines Opfers besucht. Dazwischen | |
arbeitet Taviani mit einer Collage aus eigenen neuen Bildern, | |
Dokumentaraufnahmen aus der Kriegszeit und italienischen Klassikern über | |
den Krieg wie „Estate violenta“ (1959). Seine ironische Poesie blieb | |
gleichfalls ungekürt. | |
Dafür erhielt mit Carla Simóns „Alcarràs“ ein Familienfilm den Goldenen | |
Bären. Katalonische Pfirsichbauern müssen darin ihre Obstplantage aufgeben, | |
als die Eigentümer beschließen, das Grundstück für Sonnenpaneele zu nutzen. | |
Die Jury lobte insbesondere die Ensembleleistung, die einen nah an das | |
Leben der Familie heranrücken lasse. | |
Über gleich zwei Silberne Bären freuen konnte sich das Team von [2][Andreas | |
Dresen. Für seinen Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ über den Fall | |
Murat Kurnaz aus Sicht von dessen Mutter] gab es einen Bären für das Beste | |
Drehbuch, der an die Autorin Laila Sielen ging, und einen Bären für die | |
Beste Hauptrolle, genderneutral vergeben, mit dem die Kölner Komikerin | |
Meltem Kaptan in ihrer ersten großen Filmrolle als Rabiye Kurnaz | |
ausgezeichnet wurde. Kaptan bot eine der stärksten Darbietungen, in der | |
sich ungehemmte Energie und zurückgenommene Sensibilität die Waage hielten. | |
Wo man beim Wettbewerb an vielen Stellen Abstriche machen musste – der | |
einzige US-amerikanische Beitrag, Phyllis Nagys „Call Jane“ über | |
Abtreibungsaktivistinnen in den sechziger Jahren, enttäuschte mit zu | |
deutlichem Willen zur Wohlfühlkomödie –, gab es umso mehr Begeisterung im | |
neuen Alternativwettbewerb, der Sektion „Encounters“. Mit dem Preis für den | |
besten Film an [3][Ruth Beckermanns Dokumentarfilm „Mutzenbacher“] ging die | |
österreichische Regisseurin verdient siegreich aus einer starken Auswahl | |
hervor. | |
Und das mit der Inszenierung von Männerfantasien am Beispiel des | |
titelgebenden österreichischen Skandalromans von Anfang des 20. | |
Jahrhunderts. Männer lesen darin Passagen über Kindesmissbrauch und | |
kommentieren dies, zum Teil in erschreckender Offenheit. | |
Auch der Regiepreis der Sektion für den [4][Schweizer Filmemacher Cyril | |
Schäublin und dessen „Unrueh“] war eine gute Entscheidung. Findet dessen in | |
streng geometrischen Bildern gehaltene Erinnerung an die Anfänge der | |
Anarchie unter Schweizer Uhrmachern im 19. Jahrhundert doch eine sehr | |
eigene Formsprache, deren aufgelöste räumliche Hierarchie zugunsten von | |
Tiefe die politischen Ideen stimmig reflektiert. Ein Kinostart hierzulande | |
wäre sehr zu begrüßen. | |
Desgleichen ist zu hoffen, dass der Brite Peter Strickland mit seiner Farb- | |
und Klangorgie „Flux Gourmet“ in Deutschland wieder ins Kino findet. Derart | |
kontrolliert wüste Inszenierungen von Performancekunst gibt es so schnell | |
nicht wieder auf der Leinwand. | |
Aus den „Encounters“ stammte auch der sektionsübergreifend prämierte beste | |
Erstlingsfilm „Sonne“ von Kurdwin Ayub. Sie erzählt von drei Wiener | |
Schulfreundinnen, die mit ihrem eigenen Video des Songs „Losing My | |
Religion“ von R. E. M., in Burkas gekleidet singend und tanzend, für Wirbel | |
in der muslimischen Community sorgen. Wie selbstgedreht, mit vielen | |
Handyvideosequenzen, schafft Ayub eine nahezu dokumentarische Direktheit. | |
Man hätte dem Film noch ein paar mehr Preise gewünscht. | |
17 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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