# taz.de -- Nachklang zur Berlinale: Trauriges Steinobst | |
> Die Berlinale gönnt sich am Wochenende noch Publikumstage. Währenddessen | |
> bleibt die Frage, ob der beste Film gewonnen hat. | |
Bild: Szene aus dem Film „Alcarràs“, Gewinner des Goldenen Bären der Berl… | |
Erst ist der alte Citroën 2CV weg. Eben noch hatten die Kinder vom | |
Bauernhof darin gespielt, wenig später kommt ein Bagger und schafft ihn | |
fort. Der Bagger soll aber nicht allein tote Gegenstände wie Autos | |
beseitigen. Er ist gekommen, um die Obstbäume der Familie von Quimet | |
(baumartig standhaft: Jordi Pujol Dolcet) auszureißen. Das Grundstück, auf | |
dem sie stehen, gehört anderen, ein Generationswechsel bei den Eigentümern | |
hat neue Begehrlichkeiten geweckt. Jetzt sollen Solarpaneele dorthin, wo | |
seit Jahrzehnten Pfirsiche, Nektarinen, Weintrauben und Feigen wachsen. Bis | |
zum Herbst, wenn die Ernte eingebracht ist, bleibt Zeit, dann muss die | |
Familie weichen. | |
[1][Der Film „Alcarràs“, mit dem die Regisseurin Carla Simón auf der 72. | |
Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat], ist in seiner Geschichte ganz | |
gegenwärtig. Menschen mit Grund und Geld ändern die Regeln für die Menschen | |
um sie herum, in diesem Fall die kleinen Bauern in Katalonien, die zum Teil | |
biologischen Landbau betreiben. Simón konzentriert sich dabei auf die | |
einigermaßen unübersichtliche Verwandtschaft Quimets, zu dessen Frau und | |
drei Kindern noch Onkel und Tanten und eine Reihe weiterer Kinder kommen. | |
Die Figuren sind bei ihr ständig in Bewegung, beim Pflücken des Steinobsts | |
sind selbst die Jüngsten im Einsatz, die Kamera bleibt dicht bei den | |
Gesichtern, bei den Körpern, bei den Früchten, die vom Baum in Eimer und | |
dann in Kisten wandern, die mit dem Traktor anschließend zum Großmarkt | |
gefahren werden. Kaum kommt mal jemand zum Verschnaufen; wenn nicht | |
gearbeitet wird, streitet man beim Essen über die Frage, ob man bleiben und | |
Solarpaneele warten soll. | |
Nur nachts, wenn die Männer zufällig nicht mit dem Jeep unterwegs sind, um | |
Karnickel zu schießen, kehren kurze Momente der Ruhe ein, auch für den | |
Film. Dessen Mechanik läuft ein bisschen ab wie ein Uhrwerk; ist der | |
Startschuss für die Familie einmal gefallen, ist für diese klar, was zu tun | |
ist und wie lange. | |
Das Ensemble, das Simón dirigiert, agiert so geschmeidig wie eine | |
Tanzgruppe. Bloß dass es völlig ungekünstelt wirkt, wie eine echte Familie | |
eben. Man schaut ihnen gern zu. Die einzelnen Figuren sind nicht unbedingt | |
stark gezeichnet, sie spielen ihre Rollen jedoch deutlich genug, dass man | |
zumindest den Überblick behält. Simón hat ein klares Vorhaben für ihren | |
Film, ein Einzelschicksal stellvertretend für eine größere Entwicklung rund | |
um die Welt zu schildern. Der Film folgt dem Plan stringent und ohne | |
erzählerischen Zierrat. | |
Ein bisschen bleibt aber, auch nach der Verleihung der Preise, während die | |
Berlinale sich bis Sonntag noch ihre ausgedehnten Publikumstage gönnt, die | |
Frage, ob mit „Alcarràs“ der stärkste Film gewonnen hat. Das mag zum einen | |
am Fehlen klarer Favoriten im Wettbewerb gelegen haben. Doch gab es | |
durchaus Filme, die interessanter, vielschichtiger, raffinierter waren. | |
## Das Trauma von Bataclan | |
„The Novelist’s Film“ [2][des Koreaners Hong Sang-soo] gelang mit nicht | |
minder einfachen Mitteln eine komplexere und dichtere Erzählung. Und der | |
spanische Filmemacher Isaki Lacuesta ging in „Un año, una noche“ mutig der | |
Frage nach, wie jemand den Anschlag auf den Pariser Club Bataclan erlebt | |
und das Trauma hinterher verarbeitet. Die Erinnerung des Paars im Zentrum | |
seiner Geschichte inszeniert er als so fragil und rissig, dass es bei der | |
Kritik zu unterschiedlichen Deutungen über das genaue Schicksal der | |
Protagonisten kam. Was ein gutes Zeichen dafür sein könnte, dass der Film | |
eine seinem Thema adäquat verwirrende Form gefunden hat. | |
Vielleicht hat die Entscheidung für „Alcarràs“ auch mit der prononcierten | |
politischen Botschaft von Simóns Film zu tun. Zugleich war dies eine | |
Entscheidung für die jüngste eingeladene Filmemacherin, wogegen erst recht | |
nichts einzuwenden ist. | |
Dies wohlgemerkt mit knappem Vorsprung vor der indonesischen Regisseurin | |
Kamila Andini, die ihren Beitrag „Nana“ im Wettbewerb präsentierte, einen | |
Historienfilm über eine Überlebende des Indonesischen | |
Unabhängigkeitskriegs, die Mitte der sechziger Jahre, an der Schwelle zur | |
Diktatur Suhartos, scheinbar unbeschwert in Jakarta lebt. Ein Film, dessen | |
Bilder etwas viel erwartbare Patina haben, dafür mit eigenem Rhythmus und | |
dem genau richtigen Maß an Gamelanmusik. | |
19 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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