# taz.de -- Kinofilm über eine lesbische Liebe: Wahrhaftige Heldinnen | |
> Eine Malerin fährt für einen Auftrag auf eine Insel und entdeckt ihr | |
> Begehren neu: „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma. | |
Bild: Die junge Frau, Adèle Haenel, buchstäblich in Flammen | |
Ein Modell, das Anweisungen gibt. Eine junge Frau und Lehrerin, die ihren | |
Schülerinnen erklärt, auf welche Details sie beim Malen eines Porträts zu | |
achten haben: auf den Faltenwurf des Kleides, auf die Zartheit der | |
Ohrläppchen, auf die Haltung der Hände. Die Blickverhältnisse haben sich | |
hier verkehrt. | |
Das Modell setzt sich in Pose, blickt zurück, möchte wahrgenommen werden. | |
Dieser kurze, in einem Atelier angesiedelte Prolog nimmt das große Thema | |
einer fein- und eigensinnig erzählten Liebesgeschichte vorweg. | |
In „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ entwickelt und behauptet die | |
Kunst ihr Eigenleben. Die Künstler*in muss es nur zulassen – und | |
festhalten. Oder, um Jean-Luc Godards einfaches und doch so wahres Diktum | |
zu zitieren: „Kino heißt geben, aber davor muss man empfangen.“ Diese | |
manchmal schöne, manchmal schmerzhafte Beziehung greift [1][Céline | |
Sciamma]s bewegender Film auf. | |
Zu Beginn des Films geht es für Marianne, so der Name der Künstlerin, | |
schlicht darum, einen Auftrag nach dem zeitgenössischen akademischen | |
Regelwerk für Porträts zu erfüllen. Ohnehin ist es eine Ausnahme, dass eine | |
Künstlerin um 1770 eine solche Arbeit offeriert bekommt. Die bildende Kunst | |
ist männliches Terrain. Vielleicht wollten ihre Kollegen den strapaziösen | |
Weg nicht auf sich nehmen. | |
Als während der wild schaukelnden Bootsfahrt zu einer abgelegenen Insel an | |
der bretonischen Atlantikküste ihre Leinwand ins Wasser fällt, springt | |
Marianne in die Wellen, umklammert fest ihr Werkzeug. Wie eine Aussätzige | |
wird sie später von den Seeleuten am Strand abgeworfen, muss mit den nassen | |
schweren Kleidern und ihren Malutensilien die Klippen erklettern. In den | |
spärlich eingerichteten Gemächern trifft sie auf die Hausherrin, die auf | |
ihr Porträt weist, das einst Mariannes Vater malte: „Es war vor mir hier.“ | |
## Héloïse weigert sich | |
Ein Sprung ins Wasser. Der Vater als Vorbild. Das leblos wirkende Gemälde | |
einer jungen Frau. Und ein kurzer Satz, der viel über das vorbestimmte | |
Leben adliger Frauen jener Zeit sagt. Über Porträts, die der Dargestellten | |
voran an den potenziellen Bräutigam geschickt wurden. Beiläufig skizziert | |
Sciamma die gesellschaftlichen und sozialen Parameter des 18. Jahrhunderts | |
aus weiblicher Perspektive und gibt dabei den Rahmen vor, in dem Frauen | |
sich zu bewegen haben. | |
Marianne soll ein Bild anfertigen von Héloïse, der Tochter der Gräfin. Es | |
ist für einen Brautwerber aus Mailand bestimmt. Die geplante Hochzeit soll | |
damit besiegelt werden. Um diesem Schicksal zu entkommen, hat sich Héloïses | |
Schwester bereits von den bretonischen Klippen gestürzt. Auch Héloïse | |
verweigert sich dem Gemaltwerden. Deshalb wird Marianne ihr als | |
Unterhalterin und Begleiterin für Spaziergänge vorgestellt. | |
Die Aufnahmen der langen Wanderungen an der rauen Küste erinnern an | |
klassische Landschaftsmalerei, spannungsvoll werden die jungen Frauen zur | |
Natur und zueinander in Beziehung gesetzt. Die beiden haben kaum ein Wort | |
miteinander gewechselt, da läuft Héloïse plötzlich Richtung Abgrund. Wird | |
sie ihrer Schwester folgen? Wenn sie im letzten Moment stehen bleibt, | |
umweht sie eine Mischung aus Verwegenheit und Freiheitsempfinden. Später | |
wird sie Marianne nach Tabak und Lesestoff fragen. | |
Die Kamera übernimmt zunächst Mariannes Perspektive, wenn sie heimlich | |
Héloïses stolzes Profil studiert, die Locken, die ihr ins Gesicht wehen, | |
die verschlossenen Züge, die sich im Wind für einen flüchtigen Augenblick | |
entspannen. Eine Frau beobachtet – noch heimlich – eine andere Frau, lässt | |
sich von der Zartheit eines Nackens faszinieren, der für einen Moment aus | |
dem schweren Cape herausragt. Aus nächster Nähe erlebt man, wie sich ein | |
Bild aus gestohlenen Blicken zusammensetzt. | |
Ihre Eindrücke versucht Marianne am Abend aus dem Gedächtnis auf die | |
Leinwand zu bringen. Ihr routinierter Pinselstrich scheint noch von den | |
Konventionen des Porträts im ausgehenden 18. Jahrhundert geführt. Sie | |
begutachtet das schwere grüne Brokatkleid mit dem weiß umrandeten | |
Dekolleté, befindet, dass es sehr gut zu Héloïses blondem Haar passe. | |
## Kalkulierte und konstruierte Schönheit | |
In diesem Moment offenbart auch eine Regisseurin ihre Arbeitsmethode, zeigt | |
nach welchen Kriterien ein Bild komponiert werden kann. Die blonde Héloïse | |
(Adèle Haenel) mit ihrem hellen Teint und die dunkelhaarige Marianne | |
(Noémie Merlant) bilden einen lebendigen Kontrast zur dramatischen | |
Meereslandschaft mit ihrer ewig tiefhängenden Wolkendecke. | |
Schönheit darf kalkuliert und konstruiert sein. Doch diesem Film und seiner | |
Regisseurin geht es noch um eine andere, um eine tiefer gehende Ästhetik, | |
die das Wesen von Menschen und Dingen erfasst – und alle Regeln und | |
Konventionen sprengt. | |
Für diese Haltung braucht es einen Blick, der die eigenen Gefühle und | |
Empfindungen in die Darstellung mit einbezieht. Einen Blick, der zulässt, | |
dass er erwidert oder auch abgewiesen wird. Das erste, heimlich entstandene | |
Porträt wirkt seltsam steril, weil Marianne sich selbst und ihre immer | |
stärker werdende Zuneigung für Héloïse ausgeblendet und sich stattdessen | |
auf ihr Handwerk zurückgezogen hat. | |
„Porträt einer jungen Frau in Flammen“ wird zur sinnlichen Reflexion der | |
Blickwechsel. Wenn die stolze Héloïse für ein zweites Porträt Modell sitzt, | |
fixiert sie regelrecht die Malerin – kokett, verlegen, provozierend. | |
Marianne wiederum lässt sich nun ein, öffnet sich mit ihrem Blick auch | |
selbst. Plötzlich scheint sich der Pinsel wie von selbst zu bewegen. | |
## Lebendigkeit, die dem Film Schönheit verleiht | |
Das Begehren sucht sich seinen Ausdruck. Es ist ein ergreifender und auch | |
ein utopischer Augenblick. Für die Liebe zweier Frauen gibt es im 18. | |
Jahrhundert keine Vorbilder, keine Semantik und keine Codierung: Zwei junge | |
Frauen finden zu sich und erfinden sich und ihr Begehren neu. Die kalten | |
Gemächer fühlen sich nicht mehr kalt an, die leeren Wände nicht mehr leer. | |
Eine ungeahnte Freiheit zieht in das Anwesen ein. Während einer Abwesenheit | |
von Héloïses Mutter wird das Dienstmädchen Sophie zur Verbündeten der | |
Verliebten, alle Rangordnungen sind aufgehoben. Man spielt zusammen Karten, | |
kocht gemeinsam, nimmt an einem nächtlichen Treffen der Frauen der Insel | |
rund um ein Lagerfeuer teil. Sie stimmen einen eigentümlichen Gesang an, es | |
ist eine Frauengemeinschaft, die ganz ohne männlichen Blick auskommt. | |
Auf allen Ebenen öffnet sich die Wahrnehmung, verlässt den vorgegeben | |
Rahmen. Gemeinsam mit ihrer Freundin entdeckt Marianne andere | |
Möglichkeiten, sich als Malerin auszuprobieren. Sie steht der noch sehr | |
jungen Magd bei deren Abtreibung bei. Später stellen die Freundinnen den | |
Eingriff nach. Es entstehen Skizzen aus dem Alltag von Frauen, gezeichnet | |
mit Empathie. Es entsteht eine Kunst, die aus dem gelebten Leben kommt. | |
Immer wieder bringt die Regisseurin Céline Sciamma ihren eigenen Blick auf | |
die Leinwand, ihre Idee der Kunst und der Repräsentation. Als sich Héloïse | |
nach Musik sehnt, spielt Marianne kurz auf einem verstaubten Spinett | |
Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ an. Mit der Bemerkung, dass es sich nicht um | |
ein fröhliches, aber um ein lebendiges Stück handele. Es ist diese | |
Lebendigkeit, die dem Film eine seltene Schönheit verleiht, die seine | |
Heldinnen so gegenwärtig und ihre Gefühle so wahrhaftig erscheinen lässt. | |
Irgendwann wünscht man sich, dass das Porträt nie fertiggestellt wird. | |
30 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Die-72-Filmfestspiele-von-Cannes/!5595177 | |
## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
## TAGS | |
Kino | |
Malerei | |
lesbisch | |
Französisches Kino | |
taz Plan | |
Spielfilm | |
DVD | |
Actionfilm | |
Filmfestival Cannes | |
Kinostart | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmempfehlungen für Berlin: Arbeitsethos und Blickschule | |
Nicolas Cage arbeitet nicht nur für sein Geld, er kann auch über sich | |
selbst lachen. Auch viel Arbeit haben eine Porträtmalerin und ein | |
Klosterzöglin. | |
Film „Petite Maman“ von Céline Sciamma: Befreites Spielen im Zauberwald | |
Die französische Regisseurin Céline Sciamma hat mit „Petite Maman“ einen | |
Zeitreisefilm gedreht. Sie leistet darin magische Trauerarbeit. | |
Komödie „Monsieur Killerstyle“ auf DVD: Es kann nur eine Jacke geben | |
In Quentin Dupieuxs Film „Monsieur Killerstyle“ entwickelt ein Mann eine | |
Obsession für Wildleder. Die reale Welt wird darüber zum Fremdkörper. | |
„Terminator: Dark Fate“ im Kino: In Würde gealterte Maschinen | |
Im neuen „Terminator“-Film von Tim Miller gibt es wieder ein | |
Generationentreffen der Killerroboter. Jetzt haben aber Frauen mehr zu | |
sagen. | |
Cannes-Sieger „Parasite“ im Kino: Grausam gut | |
Die pechschwarze Gesellschaftssatire „Parasite“ brachte Bong Joon-ho die | |
Goldene Palme. Das heftigste Kinoereignis des Jahres ist eine Falle. | |
Neuer Film von Ang Lee: Schwierige Abschüsse | |
Ang Lees „Gemini Man“ über einen Auftragskiller und dessen Klon wird wegen | |
der „3D+“-Bildtechnik als Sensation angepriesen. Ist er das auch? |