# taz.de -- Cannes-Sieger „Parasite“ im Kino: Grausam gut | |
> Die pechschwarze Gesellschaftssatire „Parasite“ brachte Bong Joon-ho die | |
> Goldene Palme. Das heftigste Kinoereignis des Jahres ist eine Falle. | |
Bild: „Parasite“ ist spritzig, scharf, lustig – das Beste, was das Kino z… | |
Die Sensationen häufen sich. Vergangene Woche erst hatte mit [1][„Joker“], | |
über die Genese des Superschurken, einer der am dringlichsten erwarteten | |
Filme des Jahres hierzulande seinen Kinostart. Er war zugleich der | |
Siegerfilm bei den Filmfestspielen von Venedig. Jetzt folgt mit „Parasite“ | |
ein weiterer Gewinner, nämlich der [2][Goldenen Palme in Cannes]. Zwar kann | |
dieser Film keine Comicfigur und auch keinen Hollywoodstar als | |
Aushängeschild bieten, doch ist er in mehrfacher Hinsicht die eigentliche | |
Sensation. | |
Dabei haben „Joker“ des US-Amerikaners Todd Phillips und „Parasite“ des | |
südkoreanischen Filmemachers Bong Joon-ho auf den ersten Blick einiges | |
gemeinsam. In beiden Filmen sind die Hauptfiguren sozial Benachteiligte. | |
Diese setzen sich zudem in beiden Filmen irgendwann zur Wehr. Und in beiden | |
Filmen geht es mitunter recht gewalttätig zu. | |
Doch damit sind die Übereinstimmungen im Grunde schon erschöpft. Denn wo | |
„Joker“ in seiner Finsterkeit glatt vergessen machen kann, dass sein | |
Regisseur für Komödien wie die „Hangover“-Trilogie verantwortlich zeichne… | |
integriert Bong Joon-ho verschiedenste Tonlagen von beißendem Witz bis zu | |
handfestem Schrecken. | |
Da der Regisseur ausdrücklich darum gebeten hat, von allzu detaillierter | |
Preisgabe der Handlung abzusehen, soll es an dieser Stelle bei knappen | |
Andeutungen bleiben – und der Empfehlung, sich selbst einen Eindruck zu | |
verschaffen, wie Bong Joon-ho seine Gesellschaftsanalyse ausbuchstabiert. | |
Denn im Unterschied zu „Joker“ bietet „Parasite“ durchgehend scharfe | |
Sozialkritik. Und das in einem Film, der sich dem genrefixierenden Zugriff | |
beständig entzieht, weil er, wie bei einer Häutung, nach und nach seinen | |
Charakter wandelt. Das tut er in einer präzise getakteten Weise, die von | |
Anfang bis Ende fesselt und sich nicht davor schämt, sein Publikum zu | |
unterhalten. | |
## Ohne WLAN im Souterrain | |
Gleich das erste Bild gibt den Rahmen vor. Zu sehen ist der Blick durch ein | |
Souterrainfenster, draußen fahren Autos vorbei, eine Wäschespinne mit | |
Socken schränkt die Sicht auf die Straße ein. Dann rutscht die Kamera ein | |
kleines Stück herunter, wo ein junger Mann an seinem Smartphone sitzt. Und | |
schlechte Nachrichten verkündet: „Kein WLAN!“ Adressat der Botschaft ist | |
seine Familie, mit der er dort haust. Die Nachbarin über ihnen, so seine | |
Auskunft, hat neuerdings ein Passwort, das ihnen, den Kims, den Zugang zur | |
vernetzten Kommunikation verwehrt. Die Kims selbst, das suggeriert ein | |
näherer, von der Kamera gewährter Blick in das Kellerloch der vierköpfigen | |
Familie, können sich keinen eigenen Internetzugang leisten. | |
Geld verdient man, nach einigen beruflichen Rückschlägen, notgedrungen mit | |
Niedriglohnjobs wie Pizzakartons falten. Bis der Sohn Ki-woo (Choi | |
Woo-shik) unerwartet Besuch von einem Studienfreund erhält. Dieser kündigt | |
an, ein Jahr zum Studium in die USA zu gehen, und bittet Ki-woo, ihn | |
während seiner Abwesenheit als Englischnachhilfelehrer im Haus einer | |
reichen Familie zu vertreten. Unterricht erhält die Tochter des Hauses. Das | |
Angebot kommt dabei weniger aus Hilfsbereitschaft denn aus Kalkül: Ki-woo | |
wurde vom Freund ausgesucht, weil dieser als ausgemachter „Loser“ die | |
geringste Gefahr darstellt, ihm die Nachhilfeschülerin auszuspannen. | |
## Examen kann man fälschen | |
Bong Joon-ho präsentiert die Familie Kim zu Beginn als von Armut | |
gezeichnet, jedoch keineswegs als unbedarft. Ki-woo etwa nutzt seine Chance | |
nicht bloß, um sich so gut wie möglich zu verkaufen. Er lässt sich von | |
seiner technisch versierten Schwester Ki-jung (Park So-dam) sogar die | |
erforderlichen Examen fälschen. Zusammen mit der Empfehlung durch den | |
Freund öffnet ihm dies sämtliche Türen zur ihm andernfalls verschlossenen | |
Welt der Familie Park. Die sich schon mit dem kamerabewehrten Tor an der | |
Grundstücksgrenze ankündigt. | |
Den Statusunterschied zwischen beiden Familien inszeniert Bong Joon-ho denn | |
auch optisch überdeutlich mit dem parodistisch herausgestellten Gegensatz | |
zwischen den Wohnungen. Der Kontrast des imposanten Wohnsitzes der Parks | |
zur kakerlakenbevölkerten Enge bei den Kims könnte kaum schreiender sein. | |
Als Ki-woo sich das erste Mal auf den Weg zu den Parks macht, um seine | |
Probestunde anzutreten, folgt ihm die Kamera eine breite, nüchterne | |
Betontreppe hinauf, gleitet über eine penibel gepflegten Garten, der von | |
zahllosen automatischen Rasensprengern bewässert wird, um schließlich | |
dahinter die Glasfensterfront der in elegant-einschüchterndem Beton | |
gehaltenen Villa zu bestaunen. | |
Bong Joon-ho hat diese Villa nach eigenen Angaben extra für den Film bauen | |
lassen. Auch das offen gestaltete Erdgeschoss mit fließendem Übergang | |
zwischen Küche und Wohnzimmer ist nach seinen Vorstellungen entworfen. Es | |
ist eine Architektur des dezent distinguierten, damit zugleich umso | |
machtvoller zur Schau gestellten Wohlstands. | |
Beide Wohnungen wirken in ihrer offenkundigen Gegensätzlichkeit fast wie | |
eigenständige Protagonisten. Passend dazu hat „Parasite“ keinen | |
eigentlichen Hauptdarsteller, sondern vielmehr ein grandios aufeinander | |
abgestimmtes Ensemble. In dem sich im Übrigen keine Identifikationsfiguren | |
finden. Wo die Kims einheitlich als so bedürftig wie durchtrieben | |
auftreten, können die Parks in ihrer distanzierten Freundlichkeit und dem | |
Bemühen um korrektes Verhalten im Ernstfall nicht aus ihrer Haut und stören | |
sich schon mal am Geruch anderer. | |
Die Parks sind ihrerseits hoffnungslos naiv im Vertrauen auf Empfehlungen | |
aller Art. Was die Kims schon bald für ihre Zwecke auszunutzen wissen: Als | |
Ki-woo erfährt, dass der kleine Sohn der Parks verhaltensauffällig ist und | |
eine Kunsttherapeutin benötigt, fällt ihm sogleich eine entfernte Bekannte | |
ein, die Spezialistin auf dem Gebiet ist. Tatsächlich handelt es sich um | |
seine Schwester Ki-jung. | |
Das aggressiv manipulative Marketing der Kims, mit dem sie die Parks | |
einwickeln, wirkt wie ein Seitenhieb auf den nach wie vor wachsenden | |
Coaching- und Beratungsmarkt. Was lediglich ein Beispiel ist für Bong | |
Joon-hos über die Grenzen der koreanischen Gesellschaft hinaus zielende | |
Kritik an den herrschenden Bedingungen, unter denen Menschen wie die Kims | |
und die Parks zu dem werden, was sie sind. | |
[3][Bong Joon-ho hatte 2013 mit „Snowpiercer“] eine stark allegorische, | |
doch nicht weniger beißende Gesellschaftskritik verfolgt. Darin raste ein | |
abgeriegelter Zug durch eine unbewohnbar gewordene vereiste Welt, die | |
einzelnen sozialen Schichten von vorn nach hinten in verschiedene Waggons | |
eingeteilt. „Parasite“ hingegen ist vertikal ausgerichtet, mit der Villa | |
hoch oben auf den Hügeln Seouls und der Wohnung der Kims irgendwo „da | |
unten“. | |
Dass es in dieser Geschichte am Ende keine Gewinner gibt, ist hoffentlich | |
nicht zu viel des Geheimnisverrats. Bong Joon-ho will definitiv nicht | |
versöhnen. Lösungen hat er auch keine – die von einem Film zu erwarten, | |
wäre ohnehin zu viel verlangt. Doch er hat einen unerbittlichen Blick. In | |
dem man sich irgendwann selbst wiedererkennen kann. Im günstigsten Fall | |
lachend. | |
17 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Comic-Verfilmung-Joker/!5628582 | |
[2] /Die-72-Filmfestspiele-von-Cannes/!5595177 | |
[3] /Schauspieler-ueber-Film-Snowpiercer/!5045433 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Filmfestival Cannes | |
Bong Joon-ho | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
Kino | |
Spielfilm | |
Tanz | |
Spielfilm | |
Spielfilm | |
Filmfestival Cannes | |
Kino | |
Spielfilm | |
Tilda Swinton | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Deutsche Tanz-Compagnie in Seoul: Wer sieht mehr? | |
Die Tanz-Company Bodytalk aus Münster eröffnete in Seoul das Tanzfestival. | |
Heraus kam ein transkulturelles Experiment um Fremd- und Selbstbilder. | |
Spielfilm „Minari“ im Kino: Die eigene Farm in der Fremde | |
Der Spielfilm „Minari“ ist ein internationaler Hit. Er erzählt verdichtet | |
von einer koreanischen Immigrantenfamilie im ländlichen Arkansas. | |
Komödie „Rettet den Zoo“ im Kino: Der Colabär hat Durst | |
Die südkoreanische Komödie „Rettet den Zoo“ startet im Kino. Statt echter | |
Tiere schlüpfen darin die Angestellten in Kostüme – und saufen Limo. | |
„Parasite“ bester Film bei Oscars 2020: Bong räumt bei Oscars ab | |
Als erster nicht englischsprachiger Film gewinnt das Drama „Parasite“ den | |
Oscar als „Bester Film“. Regisseur Bong Joon-ho bleibt bescheiden. | |
Kinofilm über eine lesbische Liebe: Wahrhaftige Heldinnen | |
Eine Malerin fährt für einen Auftrag auf eine Insel und entdeckt ihr | |
Begehren neu: „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma. | |
Comic-Verfilmung „Joker“: Der tragische Killer-Clown | |
In Todd Phillips’ „Joker“ wird Batmans ewige Nemesis vom sadistischen | |
Psychopathen zum kranken Verlierer. Ist diese Figur eine Zumutung? | |
Schauspieler über Film „Snowpiercer“: „Die Grenzen des Möglichen“ | |
Bong Joon-hos Film „Snowpiercer“ ist ein apokalyptischer Science-Fiction. | |
Schauspieler John Hurt über den teuersten koreanischen Film aller Zeiten. | |
„Snowpiercer“ auf der Berlinale: Schockstarrer Planet Erde | |
„Snowpiercer“ von Bong Joon-ho ist der teuerste koreanische Film aller | |
Zeiten – mit einem unwilligen Produzenten. Mit dabei: Tilda Swinton mit | |
Überbiss. |