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# taz.de -- Spielfilm „Minari“ im Kino: Die eigene Farm in der Fremde
> Der Spielfilm „Minari“ ist ein internationaler Hit. Er erzählt verdichtet
> von einer koreanischen Immigrantenfamilie im ländlichen Arkansas.
Bild: Ankunft der Familie Yi am neuen Lebensmittelpunkt im grünen Hochland
In Südkorea setzte bis 1987 eine rücksichtslose Militärdiktatur den
Aufstieg des Landes zur Industriemacht durch. Die Landbevölkerung wurde zur
industriellen Reservearmee, die kaum Rechte und Zukunftsperspektiven hatte.
Vielleicht veranlasste solch eine bittere Erfahrung das Paar im Mittelpunkt
von [1][Lee Isaac Chungs Festivalhit „Minari“] dazu, wie Tausende ihrer
Landsleute damals in die USA auszuwandern.
Die Vorgeschichte taucht im Film nur in Andeutungen auf, zum Beispiel im
Streit zwischen Jacob und Monica Yi (Steven Yeun und Han Yeri), die sich
bei ihrer Hochzeit geschworen hatten, in den USA gemeinsam ein besseres
Leben aufzubauen, in Kalifornien aber schließlich alles Ersparte an Jacobs
Familie in Korea schickten. Nach zehn Jahren im gelobten Land sind sie
immer noch „Chickensexer“, die Küken in den Hintern schauen, um die
männlichen für die „Entsorgung“ auszusortieren.
Wir müssen uns anstrengen, nicht auch aussortiert zu werden, versucht Jacob
einen Scherz, als sein Söhnchen David nach dem Rauch über der Hühnerfarm
fragt, in der Vater und Mutter jobben. Es geht in „Minari“ auch darum, wie
ein Familienvater in den 1980ern irgendwo in den Ozark Mountains in
Arkansas alles daransetzt, sein Ideal einer auskömmlichen, Zufriedenheit
stiftenden Existenz zu verwirklichen, und dabei heftig mit dem Wunschtraum
seiner Frau, in der Stadt zu leben, kollidiert.
Lee Isaac Chungs Film lebt von plastischen Details, wie der Alltag von
koreanischen Migranten in den USA vor rund vierzig Jahren aussah, auch vom
Mit- und Gegeneinander der Eltern und ihrer beiden Kinder David und Anne
(Noel Kate Cho), die das Landleben im Bible Belt der USA völlig verschieden
aufnehmen. Jacob will mit einem Landwirtschaftsprojekt als Unternehmer
endlich Erfolg haben und unbedingt ankommen, Monica und die Kinder werden
durch die anreisende koreanische Großmutter Soon-ya (Youn Yuh-Jung) immer
wieder an die fremde Vergangenheit in Korea erinnert.
Als Lee Isaac Chung beim Sundance Festival 2020 den Großen Preis der Jury
und den Publikumspreis gewann, betonte er in vielen Statements, dass sein
Film auf authentischen Lebenserfahrungen beruhe. Geboren 1978 in Denver als
Kind koreanischer Einwanderer, wuchs er im Bible Belt auf, wurde bei seinem
Biologiestudium zum Filmemachen angeregt, drehte inzwischen vier Spielfilme
und lebt heute in New York.
## Kleine Katastrophen mit der schrulligen Großmutter
Seinen eigenen Kindheitserinnerungen, vor allem der schlitzohrigen Art
eines Siebenjährigen, sich seiner Haut zu wehren, setzt er in der Figur des
kleinen Wonneproppens David ein Denkmal, während die zehnjährige Schwester
Anne den vernünftigen Part gibt und nach allen Seiten vermittelt. Die
Perspektive der Kinder, vor allem in den kleinen Katastrophen im Umgang mit
der schrulligen Großmutter, nimmt in „Minari“ ebenso viel Raum ein wie das
Ehedrama der Eltern. David ist herzkrank, braucht besondere Fürsorge und
hat dennoch vielleicht nicht mehr lange zu leben.
Die kalkulierte Balance zwischen der charmanten, von Davids Angst vor dem
Ende in der Hölle geprägten Kinderwelt und dem Überlebenskampf der
erwachsenen Protagonisten machten den von Brad Pitts Produktionsfirma Plan
B koproduzierten Film als „Mitfühl“-Movie und zugleich universell
verständliche Migrationsgeschichte auf über fünfzig Festivals zum
Publikumshit.
Anteil an der romantisierenden Stimmung, die alle Reibungspunkte der
Geschichte versöhnend überdeckt, hat nicht zuletzt die süßlich-sanfte
„Minari-Suite“ des kalifornischen Filmmusik-Shootingstars Emile Mosseri. In
Coronazeiten bedient „Minari“, anders als die [2][schwarze südkoreanische
Familienkomödie „Parasite“ von Bong Joon-ho (2019)] Emotionen, die die
Familie als Nest und Verhandlungsort des sozialen Zusammenhalts ansprechen.
## Koreanisches Gemüse liefern
Alles beginnt mit der Anfahrt der Familie Yi zu ihrem neuen
Lebensmittelpunkt im grünen Hochland. Die Kinder freuen sich über das Haus
auf Rädern, während sich auf dem Gesicht der Mutter das Entsetzen spiegelt,
ein düster brachliegendes mobile home als neues Heim einzurichten. Jacob
hat zwanzigtausend Hektar Grasland und Wald billig gekauft (sein
gescheiterter Vorgänger nahm sich dort das Leben, wie man beiläufig
erfährt) und verfolgt den großen Plan, neben dem Chickensexer-Job eine Farm
aufzubauen, die Gemüse an die koreanischen Läden in Rogers und anderswo
liefern kann.
Probleme der Anpassung an die christlich-weißen Landsleute ringsum hat Lee
Isaac Chungs Film nicht zum Thema. Im Gegenteil sucht Monica Anschluss an
die Gemeinde, wo der Prediger die Neuankömmlinge willkommen heißt. Ein
Junge fragt David zuerst misstrauisch, warum sein Gesicht so flach sei,
begrüßt ihn aber bald als neuen Freund. Sonntags begegnet ihnen Paul (Will
Patton), ein kauziger Urchrist und Jacobs Farmhelfer mit Hang zu lauten
Gebeten und exorzistischen Bannsprüchen. Mit einem schweren Kreuz beladen
büßt er auf diesem privaten Kreuzweg seine Sünden.
Mit Laien gedreht und in elliptisch knappe Signalszenen fragmentiert,
konzentriert die Montage (Harry Yoon) das Geschehen auf die
Binnengeschichte der Familie. So bleibt außen vor, wie das Leben im Trailer
im kalten Winter aussieht oder wie es ist, wenn einer der anfangs
angekündigten Tornados wütet. Alles scheint sich im grünen, manchmal
nebligen Farbenspiel einer Gemüsesaison von Frühling bis Hochsommer zu
ereignen.
Ob das koreanische Gemüse, das Jacob als Spezialität verkaufen möchte, sich
botanisch von amerikanischen Pflanzen unterscheidet und Pflanzenschutz
wichtig wird, ist ein zu vernachlässigendes Detail im Vergleich zur
Wasserknappheit auf Jacobs Farm, die er nur mithilfe der angezapften
Trinkwasserleitung des Landkreises austricksen kann. Lee Isaac Chungs
Verdichtung des Erzählten ist deutlich zu spüren.
## Übelriechender Tee
Monicas Mutter Soon-ya soll die Kinder hüten, die in dieser ersten Saison
offenbar nicht zur Schule müssen, während Monica weiter in der Hühnerfarm
Geld verdient und Jacob sich um die Farm kümmert, so der Kompromiss. Der
kleine David hält nichts davon, dass die Großmutter, die keine Kekse backen
kann und ihm einen übelriechenden Tee mitgebracht hat, im gleichen Zimmer
wie er schläft und schnarcht. Die Reibereien, die er sich mit der stets am
Boden sitzenden alten Dame liefert, bilden das comic relief des Films im
Kontrast zu den zunehmenden Streitereien der Eltern.
Eine Szene zeigt die Großmutter als emotionales Bindeglied: Sie brachte
VHS-Kassetten mit Musiksendungen der 1970er Jahre aus Korea mit. (Dass
Migranten unter der Hand vertriebene TV-Mitschnitte in antennenarmen
Gegenden wie Schätze hüteten, berichtet Chung in seinen Statements zum
autobiografischen Kern des Films.)
Als ein bestimmtes Lied auf dem verschneiten Bildschirm läuft, bemerkt die
für sich sitzende Großmutter, dass es das Hochzeitslied von Monica und
Jacob gewesen sei, während in diesem Moment die Trennung im Raum steht:
Monica wendet sich zögernd dem Bildschirm zu, Jacob sitzt allein und
ungerührt beim Essen am Tisch.
Auf Soon-yas Spaziergängenmit David entdecken die beiden einen Bach, an
dessen Ufer die alte Dame die asiatische Brunnenkresse Minari zu pflanzen
beginnt. Als ausgerechnet sie als Inbild dessen, was Jacob in Amerika
hinter sich lassen wollte, seiner ersten Ernte den Garaus macht, bleibt
dennoch das erlösende, für den Familienzusammenhalt stehende Bild, ihr
Minari-Kraut als Zukunftsversprechen in der freien Wildbahn zu finden.
14 Jul 2021
## LINKS
[1] /Oscarverleihung-2021/!5762749
[2] /Cannes-Sieger-Parasite-im-Kino/!5629704
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
Spielfilm
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