# taz.de -- Comic-Verfilmung „Joker“: Der tragische Killer-Clown | |
> In Todd Phillips’ „Joker“ wird Batmans ewige Nemesis vom sadistischen | |
> Psychopathen zum kranken Verlierer. Ist diese Figur eine Zumutung? | |
Bild: Brillant und furchterregend: Joaquin Phoenix als Joker | |
BERLIN taz | „I’ve got a condition“, steht auf der Visitenkarte, die der | |
seit Minuten lachende Mann seiner Sitznachbarin im Bus hinhält. | |
Misstrauisch beäugt sie die Karte, der Mann gackert hysterisch weiter, | |
heult, krampft, kriegt keinen geraden Ton mehr heraus. Bis er sich | |
verschluckt und nur noch verzweifelt zuckt und die Fahrgäste angeekelt | |
wegschauen. Jene „Condition“, mit der Batmans späterer Gegenspieler in Todd | |
Phillips’ „Joker“ zu kämpfen hat und die ihm – neben anderen Problemen… | |
auch die unkontrollierbaren Lachanfälle beschert, ist komplex, vielleicht | |
sogar gefährlich. | |
„Psychopathisch“ sei der Charakter, ferndiagnostizierte ein US-Psychologe | |
nach der Premiere in Venedig, wo „Joker“ einen Goldenen Löwen gewann. Und | |
empfahl der Geschichte eine „Trigger Warnung“: In einem Land wie den USA, | |
wo Vertreter einer männlichen Subkultur für sich selbst den Terminus | |
[1][incel] benutzen („involuntary celibacy“, unfreiwilliges Zölibat), sich | |
als von Menschenhass, Misogynie und Angst getrieben sehen, weil sie keinen | |
Erfolg bei Frauen haben, und bei Schießereien und Amokläufen immer wieder | |
als Täter auffallen, sei ein Drama mit einer solchen Travis-Bickle-Figur | |
nicht nur eine Zumutung. Es berge auch die Gefahr der Nachahmung. | |
Schon in Colorado hatte im Juli 2012 ein Mann mit orangegefärbten Haaren | |
und einem Faible für Batman-Devotionalien während einer Aufführung von | |
„Batman – The Dark Knight Rises“ zwölf Menschen in einem Kino erschossen. | |
Angehörige der Opfer des [2][„Aurora-Attentats“] [3][appellierten] vor dem | |
Filmstart von „Joker“ an das Verantwortungsgefühl der Produktionsfirma. | |
Allerdings forderten sie keinen Filmstopp: In einem Brief baten sie Warner | |
Bros., ihren „massiven Einfluss“ dazu zu nutzen, „sichere Gemeinschaften | |
mit weniger Waffen“ aufzubauen – und mitzuhelfen, die Waffengesetze in den | |
USA zu verschärfen. | |
Im September dieses Jahres wurde der Start von Craig Zobels umstrittener | |
Menschenjagd-Satire [4][„The Hunt“] nach zwei Massenschießereien verschoben | |
– unter anderem, nachdem Trump sich gegen den Filmstart ausgesprochen | |
hatte. Der Film könne Gewalt evozieren, lautete die Befürchtung. Die | |
gleiche Sorge findet sich nun auch in der Diskussion um „Joker“. | |
## Eindringliche Spannung | |
Phillips’ „Joker“-Vision beschreitet einen Passionsweg, an dessen düster… | |
und längst bekannten Ende die Batman-Geschichten beginnen: Arthur Fleck, so | |
heißt die von Joaquin Phoenix gespielte Figur, versucht nach längerem | |
Psychiatrieaufenthalt, sich in der Grausamkeit der Großstadt Gotham | |
zurechtzufinden, die – wie in den Comics – eine starke Nähe zu einem sozial | |
eingefrorenen New York aufweist. | |
In Straßenfluchten der Stadt, die an die harte 80er-Jahre-Realität der | |
Prä-Giuliani-Ära erinnert, arbeitet er im Clownskostüm als Koberer für | |
Geschäfte. Ein heruntergekommenes Management namens „Haha-Agency“ | |
vermittelt ihn und andere Unglücksraben zudem als karg bezahlte | |
Miet-Clowns. | |
Gleich der Auftakt in Phillips’ Film verbreitet eine so eindringliche wie | |
hoffnungslose Spannung: Flecks Schild, mit dem der Werbeclown auf der | |
Straße steht, wird ihm von ein paar Jungen gestohlen. Bei einer | |
anschließenden Verfolgungsjagd lauern sie ihm in einer Sackgasse auf, | |
verprügeln ihn brutal – als letzte Szene dieser verstörenden | |
Eingangssequenz spritzt dem schwer traktierten Mann eine Flüssigkeit aus | |
der Plastikblume entgegen. | |
## Wenn die Waffe gezeigt wird, wird sie später auch benutzt | |
Klar, dass der Verlust des Schildes Fleck in weitere Schwierigkeiten | |
bringen wird. Klar, dass sich das Außenseitertum, das nur durchbrochen | |
wird, wenn sich Fleck um seine bettlägerige Mutter kümmert, wie eine kalte | |
Krake immer weiter ausbreitet. | |
Fleck hat von Anfang an fast nichts – außer der unrealistischen Hoffnung, | |
als Stand-up-Comedian so erfolgreich wie sein Vorbild Murray Franklin, | |
gespielt von Robert De Niro, zu werden. Und sogar das wird ihm genommen, | |
indem die bereits mangelhafte psychologische Beratung, bei der sich Flecks | |
kaputtes Inneres in Teilen offenbart, gestrichen wird. Und indem die | |
wenigen Vertrauten, die er zu haben meint, sich als Lügner*innen | |
herausstellen. | |
Die Pistole, die ein Kollege ihm zukommen lässt, knallt bei einer | |
„Kinderclown-Nummer“ im Krankenhaus aus der zu großen Jacke zunächst nur | |
auf den Boden. Aber natürlich weiß Phillips, dass man eine Waffe im dritten | |
Akt benutzen muss, wenn man sie im ersten Akt zeigt. | |
## Vom Huhn zum Bösewicht | |
Das Perfide an Phillips’ Film ist einerseits die Gewissheit des Publikums, | |
dass diese Abwärtsspirale nicht aufgehalten werden kann – denn der Joker | |
ist Batmans ältester Feind, seine tragische Figur ist etabliert und das | |
Prequel „Joker“ nur der Auftakt. In den 60ern wurde er vom vielbeschäftigen | |
Cesar Romero als albernes, weißgeschminktes Huhn interpretiert. | |
Seit Jack Nicholsons lustvoller Darstellung aus dem Jahr 1989 wanderte das | |
Böse zunehmend aus dem Gesicht in die Psyche, und der Joker mutierte zu | |
Batmans unheimlichen Alter Ego. Heath Ledger wurde für die Darstellung in | |
Christopher Nolans Batman-Adaption posthum ein Oscar verliehen. Der „Joker“ | |
verwandelte sich zum „Killer-Clown“ – einer Figur, die fast so alt ist wie | |
der Zirkusclown und deren irres Lachen den Gegenpart zum missmutigen Batman | |
symbolisiert. | |
Andererseits legt Phillips den üblicherweise leicht artifiziellen | |
Superheldenkosmos direkt in die Realität und nimmt den Zuschauer*innen | |
damit die Möglichkeit der Distanzierung. „Joker“ hat nichts mit der klar | |
erkennbaren Realitätsferne üblicher DC- (oder [5][Marvel]-)Werke zu tun. | |
(Super-)Held*innen gibt es nicht, nur Verlierer*innen. Radikal hat Phillips | |
seinen Film dramaturgisch, ästhetisch und motivisch in einen Psychothriller | |
verwandelt. Dem gibt Phoenix mit seiner windschiefen und hageren Physis und | |
seinem Talent, die Verletzungen vor allem mit den Augen zu zeigen, ein | |
brillantes, furchterregendes Gesicht. | |
## Traumatisierter Antiheld | |
Konsequent zeigt Phillips auch die Gewalt (von und an Fleck) in all ihrem | |
Schrecken – und rückt den Film damit tatsächlich an eine Grenze. Denn mit | |
den real wirkenden Prügeleien und Morden, die „Joker“ in den USA ein | |
R-Rating (ab 17) und in Deutschland die Kennzeichnung FSK 16 bescherten, | |
mit der nervös-brillanten Musik der isländischen Cellistin Hildur | |
Guanadóttir und mit seinem exzellenten Hauptdarsteller ragt der Film aus | |
dem fantastischen Genre-Umfeld heraus. | |
Und die Frage keimt, wieso es nötig ist, die Bildebene derartig drastisch | |
zu gestalten – wenn allein schon die Traumata, die Fleck erlebt (und in der | |
Kindheit erlebte), ausreichen würden, um die nötige Fallhöhe zu erzeugen. | |
Doch Phillips ästhetisiert nichts und lässt zudem keinen Zweifel daran, | |
dass sein Protagonist ein Antiheld ist, einer, der nicht als Vorbild taugt. | |
Die Psychopathen-Diagnose ist nicht richtig. Phoenix und Phillips siedeln | |
die Figur des Fleck fern eines sadistischen Psychopathentums an, stellen | |
ihn als traumatisierten, kranken Verlierer hin, dem die Hoffnung | |
ausgetrieben wurde – ähnlich wie dem Frauenmörder Fritz Honka in Heinz | |
Strunks [6][Roman] „Der goldene Handschuh“, dessen Sensibilität von Fatih | |
Akin in der [7][Verfilmung] ignoriert wurde. Die musste sich dann ebenfalls | |
für nicht handlungsrelevante Gewalt verantworten. | |
„Joker“ aus Respekt gegenüber Opfern echter Gewalt nicht zu zeigen, so wie | |
einige Kinos in Colorado, ist also nicht die richtige Lösung. Denn das | |
Problem entsteht nicht im Kino, bei Betrachtung der Abenteuer eines | |
ausgedachten Schurken. Wenn, dann ist es bereits viel, viel früher | |
entstanden. | |
8 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Antifeministische-Online-Community/!5499524/ | |
[2] /Amoklauf-in-Kino-bei-Denver/!5088573&s=Aurora-Attentat/ | |
[3] https://www.tagesspiegel.de/kultur/waffengewalt-im-kino-hinterbliebene-des-… | |
[4] https://time.com/5650047/the-hunt-movie-canceled/ | |
[5] /Comichelden-Film-Avengers-Endgame/!5590519&s=marvel/ | |
[6] /Neuer-Roman-von-Heinz-Strunk/!5276706&s=%E2%80%9EDer+goldene+Handschuh… | |
[7] /Berlinale-Der-goldene-Handschuh/!5568976&s=%E2%80%9EDer+goldene+Handsc… | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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