# taz.de -- US-Roadmovie mit Kind und Journalist: Auf Zeitgeistreise | |
> Joaquin Phoenix streift in „Come on, Come on“ als Journalist mit seinem | |
> Neffen durch die USA. Mike Mills inszeniert ihre Freundschaft als | |
> Roadmovie. | |
Bild: Joaquin Phoenix und Woody Norman: hier bei einer Parade in New Orleans | |
Es ist ein Sujet, das immer wieder nach einem ähnlichen Schema | |
funktioniert: Ein Erwachsener trifft auf ein Kind – oder andersherum – und | |
beide sind zunächst nicht sehr angetan von ihrem jeweiligen Gegenüber. Doch | |
aus anfänglicher Fremdheit wird bald eine Schicksalsgemeinschaft. | |
Man wird sich verwandter Probleme bewusst, spendet einander Trost und kann | |
vielleicht sogar das einsame Außenseiterdasein hinter sich lassen, das | |
beide bis zu ihrer Begegnung jeweils führten. Fast immer setzen | |
unterschiedliche Perspektiven auf das Leben einen Reflexionsprozess in | |
Gang, in dessen Zuge die Alten in der Regel mehr lernen als die Jungen. | |
Es ist ein Sujet, dessen Umsetzung gerne misslingt, weil es | |
Filmemacher*innen dazu verleitet, einen allzu didaktischen Ton | |
anzuschlagen. Hugh Grant etwa wird in „About a Boy“ durch die Zeit mit dem | |
zwölfjährigen Marcus (Nicholas Hoult) vom oberflächlichen Frauenheld | |
letztlich doch noch zum Beziehungsmenschen, der den Wert | |
zwischenmenschlicher Beziehungen abseits zwangloser Sexbekanntschaften zu | |
schätzen lernt. | |
## Eine gewisse Sentimentalität | |
Kennzeichnend für Produktionen über derart ungleiche Beziehungen ist | |
außerdem meist eine gewisse Sentimentalität als Folge der persönlichen | |
Katastrophen, die Kind und Erwachsenen zusammengeführt haben. Je nachdem | |
wie nuanciert diese erzählt sind, präsentiert sie sich mal als [1][forciert | |
wirkende Gefühligkeit („Oben“)], mal als [2][herzerwärmendes Feingefühl | |
(„Mary & Max“)]. | |
[3][Mike Mills („Jahrhundertfrauen“)] macht in seinem neuen Film weder den | |
Fehler, die Verbindung zwischen Radioreporter Johnny (Joaquin Phoenix) und | |
seinem neunjährigen Neffen Jesse (Woody Norman) als pädagogisches Vehikel | |
zu nutzen, noch lädt er sie mit einer aufdringlichen Rührseligkeit unnötig | |
auf. Stattdessen inszeniert er das Sujet der ungleichen | |
Kind-Erwachsenen-Freundschaft auf ganz eigene, beispiellose Art und Weise, | |
die sich am besten mit dem Charakter eines Coffee Table Book vergleichen | |
lässt. | |
Denn was „Come on, Come on“ zeigt, ist nicht unbedingt fesselnd oder gar | |
aufregend. Dafür ist das Drama in seinen kontrastreichen | |
Schwarz-Weiß-Bildern visuell überaus ansprechend und – viel mehr noch – in | |
höchstem Maße vom Zeitgeist geprägt. Und der ist bekanntlich, auch schon | |
vor systemerschütternden Krisen wie der Coronapandemie und dem Krieg in der | |
Ukraine, vor allem von Ängsten bestimmt. Sie dienen dem Film als Kulisse, | |
vor der sich die Dynamik zwischen den beiden Hauptfiguren im Zentrum | |
entwickelt. | |
## Visionen der Zukunft | |
Besagter Johnny reist für ein langangelegtes Projekt durch die USA, um in | |
verschiedenen Städten mit Kindern über ihre Vorstellungen von der Zukunft | |
zu sprechen. Ihre Antworten sind nicht selten geprägt von Sorgen, die | |
altersgerecht und dementsprechend nicht in hochtrabenden Begrifflichkeiten | |
hervorgebracht werden, die aber letztlich die großen Herausforderungen | |
unserer Zeit – wie Klassismus, Rassismus und Klimakatastrophe – | |
widerspiegeln. Passend dazu sind auch die Anlässe, die Onkel und Neffen | |
zusammenführen, von einer gewissen Schwermut geprägt. | |
Johnny, der gerade eine aufreibende Trennung durchgemacht hat, besucht | |
seine Schwester Viv (Gaby Hoffmann) kurz nach dem Todestag ihrer Mutter in | |
Los Angeles. Weil ihr an einer bipolaren Störung leidender Ehemann in | |
Oakland in psychiatrischer Betreuung ist und sie ihm in diesem Prozess zur | |
Seite stehen möchte, beschließt Johnny, so lange auf Jesse aufzupassen. | |
Um gleichzeitig weiter Kinderinterviews führen zu können, brechen sie | |
gemeinsam nach New York auf. Spätestens dort erweist sich Jesse als | |
absonderlicher Sprössling, der sich mehr für Verschwörungstheorien als | |
Gleichaltrige interessiert und bisweilen in ein Rollenspiel schlüpft, in | |
dem er ein einsames Waisenkind mimt, um mit seinen Mitmenschen zu | |
kommunizieren. | |
## Unvermeidbarer Streit | |
Was sein Onkel zunächst als schräge Marotten verbucht, die er im | |
Audio-Tagebuch kommentiert, offenbart sich im Laufe des Films als Teil | |
eines Musters, das den gemeinsamen Trip allmählich zur Zerreißprobe werden | |
lässt. Jesse ist altklug, sprunghaft und störrisch. Johnny wiederum | |
gedankenversunken, wehmütig und reizbar. Es kommt zum unvermeidbaren | |
Streit. Dennoch bildet „Come on, Come on“ eine Reise ab, die mindestens so | |
heilsam wie melancholisch ist. | |
Je weiter sie fortschreitet, desto mehr Wahrheiten werden gehoben: Als | |
gleichsam intelligentes und sensibles Kind, ist sich der Neunjährige der | |
Schwierigkeiten seines Umfelds durchaus bewusst – seine Eigenartigkeit ist | |
nur die unbeholfene Reaktion darauf. Und weil er das Frage-Antwort-Spiel | |
seines Onkels, der sich offenbar hinter dem Mikrofon versteckt, nur um | |
seinen eigenen Problemen aus dem Weg zu gehen, umdreht, muss auch er sich | |
mit seinem mäandernden Lebensweg auseinandersetzen. | |
Obwohl der Film somit auch ein Roadmovie ist, zeigt sich [4][Mike Mills] | |
nicht an allzu viel Bewegung interessiert. Eindrucksvolle Bilder treffen | |
auf wenig Inhalt – auch das ist typisch Coffee Table Book. Wie in ein | |
solches, taucht man gerne kurzzeitig in „Come on, Come on“ ein, gibt sich | |
seiner Formschönheit hin, macht eine momentan wohltuende Seherfahrung. | |
Eine, die allerdings ebenso schnell vergessen sein wird, wie sie über einen | |
kam. | |
23 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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