# taz.de -- Finnischer Kinofilm „Abteil Nr. 6“: Unverhoffte Annäherung | |
> In „Abteil Nr. 6“ lernen sich eine Studentin und ein Minenarbeiter auf | |
> einer Zugfahrt kennen. Sie verbindet: die Suche nach einem „Mehr“. | |
Bild: Teilen sich 2.000 Kilometer lang ein Abteil: Laura (Seidi Haarla) und Ljo… | |
Der Platz im Filmkanon für die beste Liebesgeschichte, die in einem Zug | |
beginnt, ist eigentlich bereits mit „Before Sunrise“ besetzt. Darin erzählt | |
Richard Linklater von der unwahrscheinlichen Romanze zwischen zwei | |
Mittzwanzigern: Céline (Julie Delpy) und Jesse (Ethan Hawke) beginnen | |
unterwegs ein intimes Gespräch, entdecken Gemeinsamkeiten und beschließen, | |
zusammen in Wien auszusteigen, um in den verbleibenden Stunden bis zu | |
Jesses Rückflug in die USA die Stadt zu erkunden. | |
Das 1995 erschienene Drama avancierte zum Indie-Klassiker, gilt sogar als | |
maßgeblicher Liebesfilm einer ganzen Generation. Der Versuch, dem Motiv | |
zweier Menschen, die auf Schienen zueinander finden, noch etwas von | |
Bedeutung hinzuzufügen, scheint zunächst entsprechend vergeblich. Was für | |
ein Glück, dass ihn Regisseur Juho Kuosmanen mit „Abteil Nr. 6“ dennoch | |
gewagt hat. | |
Dabei hat die finnische Produktion nur das Setting, den ungefähren | |
Zeitpunkt der Handlung sowie das Alter der beiden Protagonisten mit „Before | |
Sunrise“ gemein. Vielleicht auch, dass am Ende der gemeinsamen Reise eine | |
Liebe entstanden ist. Oder ist es eine tiefe Freundschaft? Dass der Film | |
nichts vereindeutigt, sich damit realitätsnäher anfühlt als sein | |
märchenhaftes Vorbild, gehört zu seinen Stärken. | |
## Er trinkt, raucht und rülpst | |
Kuosmanen inszeniert kein Aufeinandertreffen zweier womöglich füreinander | |
bestimmter Seelen, sondern rückt mit Archäologiestudentin Laura (Seidi | |
Haarla) und Minenarbeiter Ljoha (Juri Borissow) Figuren in den Fokus, die | |
auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten. Während sie von | |
Moskau aus in das 2.000 Kilometer entfernte Murmansk aufbricht, um dort | |
antike Felsmalereien zu besichtigen, hofft er in der Hafenstadt auf Arbeit. | |
Durch sein rüpelhaftes Auftreten wird ihr die Fahrt zur Tortur: Ljoha | |
betrinkt sich ständig, raucht unentwegt, rülpst ungeniert und fragt sie | |
über alles Mögliche und Unmögliche aus. | |
Während „Before Sunrise“ im Bildungsbürgertum angesiedelt und blumig | |
bebildert ist, beleuchtet Kuosmanen ungeschönt die unmittelbare Zeit nach | |
dem Untergang der Sowjetunion. Dabei versinnbildlicht er die Atmosphäre | |
durch das aufgeregte Gewimmel in einem heruntergekommenen Zug, vor dessen | |
Fenstern nichts als Kälte und Kargheit vorbeizieht. | |
Eine Annäherung zwischen Laura und Ljoha wirkt nicht nur wegen ihrer | |
Gegensätzlichkeit, sondern auch aufgrund der lebensfeindlichen Umgebung, in | |
der sie sich begegnen, unwahrscheinlich. Weshalb sie dennoch gelingt, nimmt | |
der Film mit einem einleitenden Zitat des russischen Starautors Viktor | |
Pelewin beinahe vorweg: „Um zu entkommen, muss man sich nicht nur ganz | |
sicher sein, wohin man flüchtet, sondern auch, wovor.“ | |
## Mangel an Sinn | |
Ja, „Abteil Nr. 6“ erzählt von zwei Flüchtigen. Auch wenn das „Wohin“… | |
Ende nicht klar sein mag, offenbart sich das „Wovor“ während ihrer | |
gemeinsamen Reise: ihre jeweils als sinnlos wahrgenommene Realität. | |
Als Laura auf einem Zwischenstopp ihre Partnerin Irina (Dinara Drukarowa) | |
anruft, weil sie den Trip abbrechen möchte, hat die Literaturprofessorin | |
nur belehrende Floskeln für sie übrig. Dass die junge Finnin nicht nur | |
einer unterkühlten Beziehung, sondern auch der Intellektuellenszene | |
entkommen möchte, verdeutlicht die Auftaktsequenz des Films: Während einer | |
Hausparty fühlt sie sich sichtbar deplatziert in der Gesellschaft von | |
selbstgefälligen Schwaflern. Ljoha wiederum stürzt sich in Alkohol und | |
Provokationen, um von einer Existenz abzulenken, die nichts als Schinderei | |
für ihn bereithält. | |
Beide sind auf der Suche nach einem „Mehr“, beide sind sich noch nicht | |
darüber im Klaren, wie es aussehen soll. Die ebenso feinsinnig wie | |
authentisch anmutende Erzählung einer unverhofften Annäherung wurde in | |
Cannes mit dem „Großen Preis der Jury“ geehrt. | |
In Deutschland wäre sie beinahe nur eingeschränkt im Kino zu sehen gewesen: | |
Die CineStar-Gruppe hatte sich kurzzeitig dazu entschieden, den Film | |
aufgrund des Mitwirkens des russischen Schauspielers Juri Borissow aus dem | |
Programm zu entfernen. Das wäre insbesondere bedauerlich gewesen, weil | |
„Abteil Nr. 6“ letztlich auch das ist: ein leidenschaftliches Plädoyer | |
dafür, dass Verständigung gelingen kann. Selbst über soziokulturelle | |
Grenzen hinweg. | |
30 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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