| # taz.de -- Spielfilm von Kaouther Ben Hania: Ein Visum als Tattoo | |
| > Mehr Satire als Flüchtlingsdrama ist der Spielfilm „Der Mann, der seine | |
| > Haut verkaufte“. Die Regisseurin Kaouther Ben Hania bricht mit | |
| > Erwartungen. | |
| Bild: Szene aus „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ | |
| Sam Ali, ein junger Syrer, ist verliebt – so sehr, dass er in dem Zug, in | |
| dem ihm seine Freundin Abeer ihre Liebe gesteht, vor lauter Leidenschaft in | |
| den Ruf „Revolution, Revolution!“ ausbricht und sie vor aller Augen heftig | |
| umtanzt. Für so viel Aufstand kann man unter dem Assad-Regime abgeholt und | |
| in eine eng mit Häftlingen belegte Zelle der Geheimpolizei gesteckt werden. | |
| Sam (Yahya Mahayni) gelingt die riskante Flucht ins Nachbarland Libanon, | |
| Abeer (Dea Liane) zieht sich jedoch von ihm zurück und lässt sich | |
| stattdessen auf die komfortablere Heirat mit einem arroganten Typ aus der | |
| syrischen Botschaft in Brüssel ein. | |
| „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ ist ein Film der [1][tunesischen | |
| Regisseurin Kaouther Ben Hania], die ihr Drehbuch im mittelständischen, | |
| nicht religiös gekennzeichneten syrischen Milieu ansiedelt. Der Film | |
| schreit in den ersten zehn Minuten nach den Plotfragmenten eines | |
| Flüchtlingsdramas, hier mit deutlichem Fingerzeig auf die Macht der | |
| Ehegesetze und Klassenunterschiede. Abeer bekommt selbstverständlich ein | |
| Visum für Europa und kann in Brüssel als vereidigte Übersetzerin arbeiten, | |
| Sam schafft es mit seinem Kumpel und Schlafgenossen dagegen nur zum | |
| Kükensortierer in einer libanesischen Geflügelfabrik. | |
| Gegen alle Konvention hievt die Regisseurin die sozialkritische Schärfe | |
| ihrer dem Leben abgelauschten Geschichte dann jedoch in völlig andere | |
| Dimensionen. Dass aktuelle Kunstkonzepte die Augen für das ungerechte | |
| Gefälle zwischen Reich und Arm, Europa und den Immigranten öffnen können, | |
| wäre für Kaouther Ben Hania nur naive Augenwischerei. „Der Mann, der seine | |
| Haut verkaufte“ hält sich nicht mit moralischen Appellen auf, sondern | |
| navigiert seinen Protagonisten durch eine ausgebuffte, global agierende und | |
| auf viel überflüssiges Geld setzende Kunstbetriebsblase, die ihre | |
| hegemonialen Ansprüche als dreistes Spektakel konsumiert. | |
| ## Entgegengesetzte Underdog-Welten | |
| Denn Sam ist nicht nur Kükensortierer, sondern wird auch Body-Performer. | |
| Der Film beschreibt im Look gedämpfter Farben, langsam aus der Unschärfe | |
| herausfindender Figuren und überinszenierter Kunsträume – darunter surreal | |
| anmutende postmoderne Funktionsbauten wie Hotels, Museen, Freizeitzonen – | |
| die überraschenden Korrespondenzen in der Entfremdung in den | |
| entgegengesetzten Underdog-Welten des Flüchtlings und des Body-Performers | |
| Sam. | |
| In einem Interview im Presseheft erklärt die Regisseurin zum durchdachten | |
| Stil ihres Films, dass sie die Macht eingeübter Codes abstoße und | |
| fasziniere, denn sie entscheiden über Machtgefälle und das Drinnen oder | |
| Draußen, von dem Europa profitiere. | |
| Als der gewandte, fließend Englisch sprechende Sam in einer Beiruter | |
| Galerie das Buffet im mitgebrachten Beutel verschwinden lassen will, | |
| spricht ihn die perfekte Lady Soraya Walde (Monica Bellucci) an, die | |
| Agentin des furchtlos zynischen Markenkünstlers Jeffrey Godefroi (Koen De | |
| Bow). | |
| Godefroi braucht ein intelligentes, gleichwohl fügsames Modell für ein | |
| neues Projekt. Der mittellose Flüchtling, der nichts intensiver will, als | |
| seine Freundin in Brüssel zurückzugewinnen, bekommt vertraglich einen | |
| Millionenbetrag und Reisefreiheit zugesichert, muss aber dafür buchstäblich | |
| „seine Haut zu Markte tragen“. | |
| Godefroi, ein charismatischer Überredungskünstler mit schwarz umrandeten | |
| Augen, kokettiert mit seiner mephistotelischen Lust an der Macht über „das | |
| System“ – ist eine Herausforderung für Sam, die dem Film zusätzlich Komik | |
| und Spannung verschafft. Auf Sams muskulösen Rücken lässt Godefroi ein | |
| großflächiges Tattoo anbringen, den Blow-up des Schengen-Visums, das Sam in | |
| Galerien und Museen als stillgestellter anonymer Bildträger zu präsentieren | |
| hat. | |
| ## Handlanger mit weißen Handschuhen | |
| Es beginnt eine Reise durch Europa, stets in Begleitung der sanft | |
| dominanten Agentin Soraya, die Sam in Fünf-Sterne-Hotels und Kunsttempel | |
| führt, dirigiert, bewacht und umgeben von Handlangern mit weißen | |
| Handschuhen, die das lebendige Kunstobjekt mit rituellem Ernst auf seinem | |
| Sitz arrangieren und beleuchten. Ist das ein politischer Appell? Sams | |
| Meinung und Gesicht sind nicht gefragt. Ein Fotograf inszeniert ihn sogar | |
| so, dass Godefrois Gesicht über Sams Rücken erscheint, sich ihn für die | |
| Promotion auch optisch aneignet. | |
| Kaouther Ben Hainas Thema ist Sams emotionale Reise, seine Isolation wie | |
| auch sein nie nachlassender, mit skurrilen Slapsticks inszenierter Kampf um | |
| Abeer. Geschickt unterläuft der Protagonist die entwürdigende Seite seiner | |
| Rolle in der absurden Scheinwelt des Kunstmarktes, dessen Höhepunkt, eine | |
| Auktion zur „völlig legalen“ Versteigerung seines Rückens, er auf seine | |
| Weise zum schrillen Finale bringt. | |
| Der [2][belgische Künstler Wim Delvoye], dessen Werk, die Ausstellung eines | |
| Mannes mit künstlerisch tätowiertem Rücken im Pariser Louvre, die | |
| Regisseurin inspirierte, rechnet in einem Filmauftritt als Experte | |
| schlitzohrig vor, welchen Geldwert die Versicherung bei einem platzenden | |
| Kunstdeal zu zahlen bereit sei. Der Großkünstler Godefroi vergibt sich also | |
| nichts, wenn er das „System“ anarchisch zum Narren hält und am | |
| komödiantischen Ende des Films sein verliebtes Kunstwerk wieder Mensch | |
| werden lässt. | |
| 23 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Claudia Lenssen | |
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