| # taz.de -- Filmfestspiele in Venedig enden: Der „Joker“ triumphiert | |
| > Siegreiche Psychobiografie, ausgezeichneter Polanski, Klimawandel vor der | |
| > Tür – das ist die Bilanz der Filmfestspiele Venedig. | |
| Bild: Grund zu feiern: Der Joker (Joaquin Phoenix) wird stilisiert zum Anstifte… | |
| Zum Schluss kam sogar noch die Politik auf den roten Teppich. Am | |
| Sonnabendmorgen hatten sich Demonstranten vor der Sala Grande der | |
| [1][Filmfestspiele von Venedig] niedergelassen, um gegen den Klimawandel zu | |
| protestieren, ebenso gegen die grandi navi, [2][die monströsen | |
| Kreuzfahrtschiffe], die der Lagunenstadt zusetzen. Da das Festival aus | |
| Sicherheitsgründen alle Kinosäle gesperrt hatte, sah es zunächst ganz so | |
| aus, als könnte das Filmprogramm nicht oder allenfalls verzögert starten. | |
| Irgendwann öffneten sich dann aber doch die Türen für das Publikum, während | |
| draußen die Besetzung des roten Teppichs weiterging. | |
| Um den außer Konkurrenz gezeigten Kunstthriller „The Burnt Orange Heresy“ | |
| von Giuseppe Capotondi, der an dem Morgen lief, wäre es dabei nicht allzu | |
| schade gewesen. Zwar kann man den schwedischen Schauspieler Claes Bang und | |
| die Australierin Elizabeth Debicki darin zusammen mit Donald Sutherland und | |
| [3][Mick Jagger] in Bestform erleben, doch die Betrugsgeschichte rund um | |
| die Abgründe von Kunstkritik und Kunstmarkt erwies sich am Ende selbst als | |
| dürre Mogelei, deren Verwirrungsgeflecht rasch in sich zusammenfällt. | |
| Überhaupt wurden in diesem Jahr einige Erwartungen enttäuscht durch | |
| bemerkenswert schwache Beiträge von verdienten Regisseuren, allen voran dem | |
| [4][Franzosen Olivier Assayas], der mit „Wasp Network“ ein Kapitel | |
| kubanischer Geheimdienstgeschichte zum blassen Figureneinerlei gerinnen | |
| ließ. | |
| Auch sein kanadischer Kollege Atom Egoyan verlor sich in „Guest of Honour“ | |
| in einer wenig einnehmenden, dafür umso gequälteren Familienerzählung, die | |
| um Fragen von Schuld kreiste. Und der Japaner Hirokazu Koreeda blieb mit | |
| seinem in Frankreich gedrehten Eröffnungsfilm „La vérité“ ebenfalls | |
| deutlich hinter seinem [5][Cannes-Siegerfilm „Shoplifters“] vom vergangenen | |
| Jahr zurück. | |
| ## Spontan-Favorit „Joker“ | |
| Die wenigen starken Beiträge des Wettbewerbs gingen dafür fast alle | |
| verdient siegreich aus dem Rennen. Immer wieder war Todd Philips’ „Joker“ | |
| während des Festivals von Besuchern spontan als Favorit genannt worden, und | |
| tatsächlich hat die Comicverfilmung mit Joaquin Phoenix als dauerlächelndem | |
| Gegenspieler von Batman vieles zu bieten, was die Verleihung des Goldenen | |
| Löwen an diese finstere Psychobiografie rechtfertigt. | |
| Da ist zuallererst der Hauptdarsteller, der, in stark abgemagerter Gestalt, | |
| einen leidenden Außenseiter gibt, der von Anfang an durch sein auffälliges | |
| Verhalten – unkontrolliertes, meckerndes Gelächter – befremdet, darin aber | |
| immer als verletzte und verletzliche Seele kenntlich wird. Als einer, den | |
| als Kind die Verhältnisse gebeutelt haben und der jetzt, wo er als | |
| Erwachsener mit Blessuren durchs Leben schwankt, weiter an den | |
| Verhältnissen zerbricht. Bis er zurückschlägt. | |
| Joaquin Phoenix markiert das im Gang seiner Figur, in der in sich | |
| zusammengefallenen Körperhaltung und eben immer wieder mit diesem Lachen, | |
| das den angehenden Joker weiter von seinen Mitmenschen isoliert. Die | |
| grauschlierige, unwirsch schrammende Musik der Isländerin Hildur | |
| Guðnadóttir grundiert diese ausweglose Stimmung, von der Kamera zugleich | |
| mit bleiernen Farben eingefangen. | |
| Ob „Joker“ auch der große sozialkritische Film ist, als der er mitunter | |
| bezeichnet wird, ist eine andere Frage. Man kann in der Geschichte eine | |
| Illustration des materialistischen Gedankens sehen, dass das | |
| gesellschaftliche Sein das – in diesem Fall pathologische – Bewusstsein | |
| bestimmt. | |
| Doch wird die Angelegenheit dadurch unnötig kompliziert, dass Philips den | |
| Joker zusätzlich zum Anstifter einer Protestbewegung stilisiert, die dessen | |
| Mord an drei Wall-Street-Managern zum Anlass von Gewaltausbrüchen nimmt. | |
| Mit Clownsmasken, die an eine unmotivierte Mischung aus Occupy Wall Street | |
| und der Anonymus-Bewegung denken lassen. Dass sie in dieser Geschichte von | |
| einem psychisch kranken Mörder inspiriert sind, könnte man jedenfalls auch | |
| gegen diese Proteste gewendet lesen. | |
| ## Kontrovers und filmisch groß | |
| Die Stärken des Films überwiegen gleichwohl. Genauso wie die von Roman | |
| Polanskis Geschichtsdrama „J’accuse“ über die französische Dreyfus-Aff�… | |
| Polanski, dessen Beitrag im Wettbewerb schon im Vorfeld kontrovers | |
| aufgenommen wurde, hat sich, bei allen berechtigten Einwänden gegen seine | |
| Person, als nach wie vor großer Filmemacher behaupten können. | |
| Mit einer historisch detaillierten Nachzeichnung der Prozesse gegen den | |
| vermeintlichen Spion Alfred Dreyfus, die als humanistischer Appell selbst | |
| die sehr wahrscheinliche Intention Polanskis übersteht, sich damit gegen | |
| seine eigene Verurteilung in den USA wegen Vergewaltigung zu verteidigen. | |
| Der Große Preis der Jury für den konventionell gehaltenen, jedoch | |
| dramaturgisch virtuosen Film war daher gerechtfertigt. | |
| Trotz aller gegenwärtigen Neigung, [6][Werk und Person in eins fallen zu | |
| lassen], ist „J’accuse“ ein Beispiel dafür, an dem sich nachvollziehen | |
| lässt, dass die Dinge womöglich komplizierter liegen. | |
| Erfreulich auch, dass der Schwede Roy Andersson für seinen sperrigen Stil, | |
| dem er in seinem jüngsten Film, „About Endlessness“, weiter treu geblieben | |
| ist, den Silbernen Löwen für die beste Regie bekommen hat. In kurzen 76 | |
| Minuten brachte der Regisseur, der seine blass geschminkten Figuren gern in | |
| Tableau-vivant-artige Szenen setzt, stellt oder legt, eine Menge | |
| existenzieller Fragen und lakonischen Witz unter, machte aus Langeweile | |
| Komik und ließ seinen Film darin nie redundant wirken. Von diesen mutigen | |
| Filmen hätte es gern noch ein paar mehr geben können. | |
| ## Widmung für die Seenotretter*innen | |
| Der Chilene Pablo Larraín hatte mit „Ema“ zwar ein optisch opulentes, | |
| erzählerisch überraschendes und mit kluger Botschaft versehenes Plädoyer | |
| für offene Familienkonzepte präsentiert, blieb aber ohne Preis. Sein | |
| italienischer Kollege Pietro Marcello hatte für seine freie Verfilmung des | |
| Jack-London-Romans „Martin Eden“ ebenso eine künstlerisch anspruchsvolle | |
| Form mit vermischten geschichtlichen Ebenen gewählt. | |
| Hauptdarsteller Luca Marinelli erhielt für seine differenzierte | |
| Charakterzeichnung der Titelrolle, eines Seefahrers, der zum | |
| Schriftsteller wird, sehr verdient die Coppa Volpi als bester Darsteller. | |
| In seiner Dankesrede nutzte der Schauspieler die Gelegenheit, um den Preis | |
| allen Personen zu widmen, die sich im Mittelmeer für die Rettung von | |
| Migranten eingesetzt haben. | |
| Ein spätes Highlight im Wettbewerb kam ebenfalls aus Italien, „La mafia non | |
| è più quella di una volta“ von Franco Maresco. Dieser „satirische | |
| Dokumentarfilm“ nimmt das 25. Jubiläum des Gedenkens an die Mafia-Morde an | |
| den beiden Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zum Anlass, sich | |
| mit sehr skurrilen Formen der Erinnerung durch die Sänger des sogenannten | |
| Neomelodico, einer Wiederbelebung der Canzone Napoletana, in Palermo zu | |
| beschäftigen. Mit Sängern, die vor der Kamera angeben, sie würden | |
| öffentlich keine Äußerungen wie „No alla mafia“ abgeben. | |
| Obwohl die Protagonisten mutmaßlich alle echte Personen sind, weiß man bei | |
| Maresco fast nie, was dokumentarisch und was inszeniert ist, ob man über | |
| wahre Aussagen oder reine Witze lacht. Was bleibt, ist ein geschickt | |
| getriggertes Gefühl des Unbehagens. | |
| Von derlei eigensinnigen Filmen gab es zum Glück weitere in den | |
| Nebensektionen. Jayro Bustamantes „La llorona“ zum Beispiel, der als Bester | |
| Film der Sektion „Giornate degli autori“ ausgezeichnet wurde. Ein wunderbar | |
| zwischen Wirklichkeit, Traum und Spuk changierendes Drama über die Morde an | |
| Indigenen in Bustamantes Geburtsland Guatemala, das auch im Wettbewerb eine | |
| gute Figur gemacht hätte. Oder das Regiedebüt des japanischen Schauspielers | |
| Joe Odagiri, „They Say Nothing Stays the Same“. Eine poetische Reflexion | |
| über Beschleunigung am Beispiel eines Fährmanns im frühen 20. Jahrhundert, | |
| in der die toll gefilmte Landschaft genauso ein Protagonist ist wie die | |
| darin ansässigen Geister. Es scheint, als sei die insgesamt erfolgreiche | |
| Positionierung des Festivals als Lieferant für spätere Oscar-Gewinner hier | |
| und da noch ergänzungsfähig. | |
| 8 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Filmfestspiele-Venedig/!t5025027/ | |
| [2] /Massentourismus-in-Venedig/!5013321 | |
| [3] /Mick-Jagger-wird-70/!5062460 | |
| [4] /Regisseur-ueber-68er-Film/!5066727 | |
| [5] /Cannes-Siegerfilm-Shoplifters-im-Kino/!5555388 | |
| [6] /Oscar-Akademie-und-sexuelle-Uebergriffe/!5503309 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
| Lidokino | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Roman Polanski | |
| Joaquin Phoenix | |
| Batman | |
| Kino | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Roman Polanski | |
| Experimentelle Musik | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Spielfilm | |
| Lidokino | |
| Lidokino | |
| Lidokino | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Roy Anderssons „Über die Unendlichkeit“: Triste Blicke, schlaffe Körper | |
| Ein Pastor, der an Gott zweifelt: Regisseur Roy Andersson bleibt auch im | |
| neuen Spielfilm „Über die Unendlichkeit“ seinem Langsamkeitsstil treu. | |
| Komponistin Guðnadóttir bei Berlinale: Doppelte Gewinnerin | |
| Cellistin Hildur Guðnadóttir wurde als erste Frau für ihre Filmmusik mit | |
| einem Oscar und mit einem Grammy ausgezeichnet. Darüber sprach sie in | |
| Berlin. | |
| Roman Polanskis „Intrige“: Farce, Fälschung und Verleumdung | |
| Spionage, gefälschte Beweise und Antisemitismus in Frankreich: In Roman | |
| Polanskis neuem Film „Intrige“ geht es um die Affäre Dreyfus. | |
| Isländische Cellistin über Filmmusik: „Eigentlich bin ich Performerin“ | |
| Die isländische Cellistin Guðnadóttir ist für ihren Soundtrack zu „Joker�… | |
| für den Oscar nominiert. Nun tritt sie beim Berliner CTM Festival auf. | |
| Sexualstraftäter Garry Glitter: Der Sound des Missbrauchs | |
| Der Kinofilm „Joker“ verhandelt die Folgen von Kindes-missbrauch. Ein Song | |
| kommt von einem Sexualstraftäter. Fans kritisieren diese Wahl. | |
| Comic-Verfilmung „Joker“: Der tragische Killer-Clown | |
| In Todd Phillips’ „Joker“ wird Batmans ewige Nemesis vom sadistischen | |
| Psychopathen zum kranken Verlierer. Ist diese Figur eine Zumutung? | |
| Filmfestspiele mit Familienthemen: Der Baum, an dem alles endet | |
| Familiengeschichten bei den Filmfestspiele von Venedig: „A Herdade“ | |
| behandelt Dynastien in Zeiten der Nelkenrevolution. | |
| Filmfestpiele mit fließenden Realitäten: Kino in der Schwebe | |
| Regisseur Ye Lou zieht die Zuschauer*innen in ein chinesisches | |
| Agentenspiel. Ein dänischer Psycho-Film bringt sie in die geschlossene | |
| Anstalt. | |
| Filmfestspiele mit Monotonie und Lakonie: „Es ist schon wieder September“ | |
| Große Gegensätze beim Wettbewerb von Venedig. Auf der einen Seite | |
| ausgedehntes Leid, auf der anderen kurz, knapp und lakonisch: die | |
| Unendlichkeit. |