| # taz.de -- Roman Polanskis „Intrige“: Farce, Fälschung und Verleumdung | |
| > Spionage, gefälschte Beweise und Antisemitismus in Frankreich: In Roman | |
| > Polanskis neuem Film „Intrige“ geht es um die Affäre Dreyfus. | |
| Bild: Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin, links) und Alfred Dreyfus (Louis G… | |
| Die besten „True Crime“-Storys fesseln mit einer Art Taschenspielertrick: | |
| Das „true“ heißt ja, dass es wirklich passiert ist und man als Zuschauer, | |
| Zuhörer oder Leser über das Wo, Wie, Was schon einigermaßen Bescheid weiß. | |
| Man interessiert sich, weil einem der Stoff vertraut vorkommt, wird dann | |
| aber im Lauf der Erzählung – Abrakadabra! – darüber ins Staunen gebracht, | |
| was man alles nicht wusste. In diesem Sinne ist Roman Polanskis Verfilmung | |
| der „Affäre Dreyfus“ bestes True Crime. | |
| Denn man glaubt den Stoff zu kennen: Dreyfus, französischer | |
| Armeeangehöriger, unschuldig verurteilt, Antisemitismus, dann Zola mit | |
| seinem offenen Brief „J’accuse“ – „Ich klage an!“, die Öffentlichk… | |
| empört sich und es folgen Freispruch und Rehabilitierung. So ungefähr, | |
| oder? | |
| [1][Bei allem Streit, der sich an der Person Roman Polanski (dazu unten | |
| mehr) entzündet], muss man seinem neuesten Film eines unbedingt zugestehen: | |
| Er zeigt die Ereignisse der Dreyfus-Affäre in einer Trockenheit und | |
| Bündigkeit, die dem Staunen Tür und Tor öffnet. Denn während er den | |
| Zuschauer und die Zuschauerin von lange gehegten Unkenntnissen befreit, | |
| entlässt er sie mit einer Frage, die ins eigene Selbstbewusstsein zielt: | |
| Warum eigentlich wollte man das alles bisher gar nicht so genau wissen? | |
| Nach einem Drehbuch von Robert Harris, der mit Polanski zusammen seinen | |
| eigenen Roman adaptierte, entwickelt der Film das historische Geschehen aus | |
| seinem theatralischsten Moment heraus: Am 5. Januar 1895 wird im Hof der | |
| Pariser École Militaire vor versammelten Truppen ein Mann degradiert. | |
| Zu den bellenden Klängen einer Stimme, die das Urteil wegen Hochverrats | |
| deklamiert, werden in einem demütigenden Akt sondergleichen dem Hauptmann | |
| Alfred Dreyfus sämtliche militärischen Abzeichen von der Uniform gerissen. | |
| Er selbst – gespielt von Louis Garrel – versucht wiederholt mit dünner | |
| Stimme den Pomp zu übertönen und seine Unschuld zu behaupten. | |
| ## Die antisemitische Voreinstellung | |
| Die Kamera schwenkt unterdessen zu einer Gruppe von feist grinsenden | |
| Offizieren am Rand. „Wie sieht er aus?“, fragt einer seinen Nebenmann, der | |
| die Dinge durchs Fernrohr betrachtet. „Wie ein jüdischer Schneider, der den | |
| Preis der Goldtressen abschätzt“, antwortet der. | |
| Der Mann mit dem Fernrohr (gespielt von „The Artist“ Jean Dujardin) stellt | |
| sich wenig später als Offizier Marie-Georges Picquart vor. Und als ob der | |
| Dialog am Rand der Dreyfus-Verurteilung es noch nicht genug gezeigt hätte, | |
| hebt der Film in weiteren Szenen die antisemitische Voreinstellung seines | |
| zentralen Helden heraus. Picquart nämlich, das sieht man in kurzen | |
| Erinnerungsrückblenden, war von einem frühen Stadium an über den Prozess | |
| gegen Dreyfus informiert. | |
| Dreyfus war einst sogar sein Schüler gewesen – dem er einmal offen ins | |
| Gesicht sagte, dass er zwar Juden nicht leiden könne, aber deshalb doch nie | |
| ihn, Dreyfus, professionell benachteiligen würde. Genau dieser | |
| professionelle Ethos aber wird Picquart wenig später zur Crux: Frisch zum | |
| Leiter des „Statistik-Büros“ (eigentlich die Spionage-Abteilung) ernannt, | |
| kommen ihm Beweise unter, die auf einen anderen Verräter im Militär | |
| hindeuten. | |
| ## So kurz wie hämisch | |
| Je mehr sich der Verdacht gegen diesen anderen erhärtet, desto deutlicher | |
| wird, wie dünn die Beweislage gegen Dreyfus war. Oder war sie gar gänzlich | |
| gefälscht? | |
| Der Film schildert diese Spurensuche mit großer Aufmerksamkeit für die | |
| staubig-miesen Details des Spionagehandwerks von damals. Die Räumlichkeiten | |
| sind schäbig, die Böden knarzen, die Fenster sind ungeputzt, aber ein Blick | |
| in die Schränke voller Aktenordner enthüllt eine Akribie des Verdachts, die | |
| an Obsession grenzt. | |
| Die Methoden sind gar nicht so anders als die heute – man setzt verdeckte | |
| Ermittler ein, lässt Leute beschatten und, vor allem, untersucht die | |
| Kommunikation der Verdächtigen untereinander –, anders ist lediglich der | |
| betriebene Aufwand. „Sind das Privatbriefe?“, fragt Picquart bei seinem | |
| Dienstantritt noch naiv, als er seine Mitarbeiter beim Öffnen von | |
| Korrespondenz beobachtet. „Nicht mehr“, lautet die Antwort von Oberst Henry | |
| (Grégory Gadebois) so kurz wie hämisch. | |
| Das ist eine weitere Stärke des Films: dass er die Voreingenommenheit | |
| derer, die da beobachten und überwachen, stets mit inszeniert. Der deutsche | |
| Militärattaché Schwartzkoppen fasst seinen italienischen Kollegen zum | |
| Abschied liebevoll an den Kragen? Dreckiges Gelächter unter den | |
| Betrachtern, man weiß erstens schon längst über deren illegitime Affäre | |
| Bescheid, und zweitens lässt sich das so erzeugte Ressentiment bestens | |
| einsetzen, um dünnen Beweismitteln Überzeugungskraft zu verleihen. | |
| ## Zolas offener Brief | |
| Polanski fügt die historischen Ereignisse zusammen mit der Gelassenheit | |
| eines Altmeisters, der weiß, dass Timing entscheidend ist. Für jede Szene, | |
| in der Picquart den Dreyfus-Prozess weiter als Ergebnis von Farce, | |
| Fälschung und Verleumdung enthüllt, nimmt sich der Film Zeit; in der | |
| Aneinanderreihung aber geht es Schlag auf Schlag mit einer Dringlichkeit, | |
| die für die Rolle der historischen Empörung einsteht. | |
| So bleibt der Film zwar eng an den historischen Köpfen – Picquart wird von | |
| Dujardin mit einem Ernst und einer Überzeugung verkörpert, die man dem | |
| sonst wie in Selbstironie erstarrten Schauspieler nie zugetraut hätte. In | |
| der Reihe der Einzelporträts entsteht zugleich das Bild eines Umbruchs, bei | |
| dem das, was „unter Männern“ hinter verschlossenen Türen beschlossen wurd… | |
| nicht mehr länger verborgen bleibt, sondern zusehends öffentlich | |
| abgehandelt wird. | |
| Die Öffentlichkeit, wie es den historischen Tatsachen entspricht, zeigt | |
| sich dabei in erster Linie als antisemitischer Mob, dem sich aber | |
| Intellektuelle wie eben Zola entgegenstellen. Übrigens mit Fakten, nicht | |
| mit reiner Empörung: Zolas offener Brief an den Präsidenten, auch daran | |
| erinnert der Film, war kein Gefühlsausbruch, sondern eine geradezu | |
| [2][pedantische Aufzählung der Versäumnisse und Betrügereien der an der | |
| Affäre Beteiligten]. | |
| ## Werk und Autor trennen | |
| Was der Film vor allem auch zeigt: Wie lange es dauerte, bis historische | |
| Gerechtigkeit einsetzte. 1895 verurteilt, wurde Dreyfus 1899 unter der | |
| Bedingung eines Schuldgeständnis begnadigt, aber erst 1906 rehabilitiert. | |
| Keineswegs ganz, wie der Film in einer trockenen Schlussszene klarmacht: Da | |
| bescheidet Picquart, selbst in den Generalsrang aufgestiegen, den | |
| vorsprechenden Dreyfus abschlägig: „Mehr kann ich für Sie nicht tun.“ | |
| Mit elf César-Nominierungen gilt „Intrige“ als großer Favorit beim Ende | |
| Februar vergebenen französischen Filmpreis. Allerdings ist da die Sache mit | |
| der Person des Regisseurs. Proteste und Empörung sind jedenfalls sicher, | |
| wie immer es ausgeht. Was die Affäre Dreyfus von der Affäre Polanski | |
| unterscheidet, ist jedoch, dass im Fall Polanski die Tatsachen der | |
| Öffentlichkeit immer schon bekannt waren: Er hat im Jahr 1977 eine | |
| 13-Jährige vergewaltigt. Aber erst heute ist ein größerer Teil der | |
| Öffentlichkeit bereit, sich darüber zu empören. | |
| Man kann niemanden dazu verpflichten, Werk und Autor zu trennen, selbst bei | |
| einem so kollektiv entstandenen Produkt wie einem Film nicht, aber man kann | |
| ein Werk, in dem so viele ihr Bestes geben, auch zum Anlass nehmen, zuerst | |
| über die eigene mangelnde Reaktion von einst nachzudenken. | |
| Die größere Schuld wäre demnach nicht, es zuzulassen, dass Polanski Ende | |
| Februar Preise für einen guten, notwendigen Film bekommt, sondern dass man | |
| es ihm damals durchließ, die Vergewaltigung einer Minderjährigen | |
| kleinzureden. | |
| 4 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Anschuldigungen-gegen-Roman-Polanski/!5639862/ | |
| [2] https://literaturkritik.de/id/6018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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