# taz.de -- Isländische Cellistin über Filmmusik: „Eigentlich bin ich Perfo… | |
> Die isländische Cellistin Guðnadóttir ist für ihren Soundtrack zu „Joke… | |
> für den Oscar nominiert. Nun tritt sie beim Berliner CTM Festival auf. | |
Bild: Die isländische Cellistin Hildur Guðnadóttir tritt beim CTM-Festival i… | |
taz: Frau Guðnadóttir, Sie haben sowohl für die Musik zur TV-Serie | |
„Chernobyl“ als auch zu „Joker“ Preise gewonnen, die Musik zu „Joker�… | |
sogar für einen Oscar nominiert. Was bedeutet es für Sie, Filmmusik zu | |
kreieren? | |
Hildur Guðnadóttir: Filmmusik ermöglicht es einem, auf eine völlig andere | |
Art und Weise zu arbeiten, die man vorher nicht in Erwägung gezogen hätte. | |
Wie bei „Chernobyl“. Ohne „Chernobyl“ hätte ich wahrscheinlich nie die | |
Möglichkeit bekommen, in ein Kraftwerk zu gehen, wir haben dafür ein | |
Schwesterkraftwerk von Tschernobyl in Litauen besucht – ein Atomkraftwerk | |
gleicher Bauart. Filmmusik öffnet die Türen für eine Menge musikalischer | |
Experimente. Mich nur darauf zu konzentrieren, wäre mir aber zu wenig. Die | |
vergangenen Jahre waren sehr filmintensiv, davon möchte ich ein bisschen | |
wegkommen. Eigentlich bin ich Performerin. Es ist mir sehr wichtig, live | |
aufzutreten. Dafür möchte ich mir wieder mehr Zeit nehmen und ich will ein | |
neues Soloalbum aufnehmen | |
Sie werden nun beim Berliner Festival CTM die Musik zu „Chernobyl“ | |
aufführen und damit einen besonderen Ort bespielen: die Betonhalle unter | |
einem ehemaligen Krematorium, dem Silent Green. Inwiefern passt das zu dem, | |
was Sie vorhaben? | |
Das Konzept der Liveshow ist stark mit der TV-Serie verbunden, denn wir | |
haben den Sound für die Serie ja auch schon an einem sehr speziellen Ort | |
aufgenommen, im Kraftwerk. Mir ist es deshalb wichtig, eine Performance zu | |
machen, die sehr immersiv ist, die eine Soundwelt erschafft, eine | |
ganzheitliche Erfahrung. | |
Wie meinen Sie das? | |
Die Performance in Berlin ist Teil einer Reihe, die in verschiedenen | |
Städten stattfindet, meist in Räumen mit industrieller Vergangenheit. Wir | |
arbeiten mit einem 10-Kanal-Surround-System, das an jeden Ort angepasst | |
werden muss. Auch das Licht muss immer neu konzipiert werden. Jeder Ort | |
wurde sorgfältig ausgewählt. Es ist fast so, als ob es sich dabei um einen | |
weiteren Musiker handelt. Wir hatten schon eine Performance in Krakau in | |
einer alten Fabrik, eine sehr physische und immersive Erfahrung. Die | |
Betonhalle in Berlin ist stark mit dem Tod und mit Verlust verknüpft. Ich | |
bin gespannt, wie das in die Performance einfließen wird. | |
Sie haben es bereits erwähnt: Die Musik für „Chernobyl“ haben Sie aus | |
Fieldrecordings komponiert, die Sie in einem litauischen Kraftwerk | |
aufgenommen haben. Wie kam es dazu? | |
Ich wollte möglichst faktentreue Musik machen, keine fiktionale. Es wäre so | |
einfach, Musik zu einem Ereignis wie der Katastrophe von Tschernobyl zu | |
überdramatisieren, mit spannungsgeladenen Schlagzeugeinlagen oder | |
dramatischen Streichern. Stattdessen wollte ich, dass die Musik den Ort und | |
die Strahlung verkörpert. Tschernobyl und der Super-GAU spielen eine so | |
große Rolle in der Geschichte; die Strahlung ist einer der wichtigsten | |
„Charaktere“. Man kann die Strahlung nicht filmen, man kann sie nicht | |
sehen, aber: Man kann sie in der Serie hören. | |
Wie haben Sie sich dem Ort angenähert? In Tschernobyl selbst waren Sie ja | |
nicht. | |
Es wäre wegen der Strahlung und den ganzen Restriktionen zu kompliziert | |
gewesen, in Tschernobyl aufzunehmen. Stattdessen waren wir in dem | |
litauischen Kraftwerk, in dem auch die Serie gefilmt wurde. Es stammt aus | |
der gleichen Zeit. Wenn Tschernobyl noch stehen würde, sähe es genau so | |
aus. | |
Ist dieses Kraftwerk noch aktiv? | |
Nein. Der Meiler ist außer Betrieb, aber es dauert sehr lange, ihn | |
tatsächlich stillzulegen. Es arbeiten immer noch viele Leute dort, die nur | |
damit beschäftigt sind, alles auseinanderzunehmen. Es war einfacher, Zugang | |
zu dem Ort zu bekommen, aber es gibt noch immer strenge | |
Sicherheitsvorkehrungen. | |
Wie hat es sich angefühlt, dort zu sein? | |
Tschernobyl hatte massive Auswirkungen auf die ganze Welt. Dorthin zu | |
gehen, mit dem Wissen über die Geschichte, dieser tiefer nachzuspüren, auch | |
anhand des großartigen Drehbuchs, war überwältigend. Allein schon die | |
Dimensionen! Zu sehen, wie unglaublich lang diese Korridore sind und wie | |
riesig die Turbinenhalle, hat mir sehr geholfen zu verstehen, was diese | |
Leute durchgemacht haben, als sie herausgefunden haben, was los war. Mir | |
vorzustellen, wie sie auf die Nachricht reagieren mussten, wie sie drei | |
Kilometer die Korridore entlanggerannt sind, hat mich tief beeindruckt. | |
Wie haben Sie die Aufnahmen verarbeitet? Wie entstand daraus die | |
Komposition? | |
Wir haben fast zehn Stunden Aufnahmematerial gesammelt. Ich musste jede | |
einzelne Minute durchgehen und musikalische Rohmasse herauspicken. Ich habe | |
mir alles intensiv angehört und dann notiert: Ungefähr bei einer Stunde, 35 | |
Minuten, 20 Sekunden ist ein kleines Düdüdü. Das habe ich dann herausgelöst | |
und gesäubert. Manches musste ich strecken, dehnen oder multiplizieren. | |
Oder ich musste die Frequenz drosseln, damit es überhaupt hörbar wurde. Im | |
nächsten Schritt habe ich die Elemente auf die Bilder angepasst. Es war ein | |
sehr aufwändiger Prozess, wie eine Schatzsuche. | |
Hat Ihnen der Regisseur freie Hand gelassen? | |
Der Regisseur kommt aus Schweden, das war für mich ein großes Glück. | |
Menschen aus nordischen Ländern haben einen ähnlichen Zugang zum | |
Storytelling. Wir neigen dazu, dunkle, düstere Geschichten zu erzählen. | |
Weil in nordischen Ländern das Licht fehlt? | |
Wahrscheinlich. Es vereinfacht den Dialog, wenn man aus kulturell ähnlichen | |
Regionen kommt. US-Amerikaner:innen haben zum Beispiel oft eine sehr | |
andere Vorstellung, was den Einsatz von Filmmusik betrifft. Sie neigen | |
dazu, alles mit einer konstanten musikalischen Narration zu überfrachten. | |
Davon bin ich kein großer Fan. Wenn man über alles Musik legt, fehlt der | |
nötige Raum, an den entscheidenden Momenten, mit der Musik etwas aussagen | |
zu können. | |
Ist das eine Anspielung auf Ihre Arbeit an der Filmmusik für „Joker“? Das | |
war schließlich eine reine US-Produktion. | |
Am Anfang sah es so aus, als ob auch bei „Joker“ in jeder einzelnen Minute | |
Musik zu hören sein sollte. Dann haben wir es aber geschafft, das | |
auseinanderzuziehen und vieles davon wegzunehmen. Bei „Joker“ war das kein | |
Problem. Wenn man sich aber herkömmliche Comicbuchverfilmungen, | |
Superheldenfilme oder TV-Serien ansieht, ist in der Regel immer Musik zu | |
hören. | |
Woran liegt das? Misstrauen die Regisseure der visuellen Kraft ihrer | |
eigenen Filme? | |
Das könnte ein Teil der Erklärung sein. Es liegt aber sicher auch daran, | |
wie heute Filme entstehen. Mittlerweile ist es die Norm, dass Musik als | |
letztes Element hinzukommt. Heute Filme zu machen bedeutet meist viel | |
Postproduktion, CGI (Computer Generated Imagery, d. Red.), Aftereffects. | |
Auch Musik wird meist im Rahmen der Postproduktion gemacht. Viel Zeit | |
bleibt dann nicht. Sowohl für „Chernobyl“ als auch für „Joker“ hatten… | |
sehr viel Zeit. An der Musik für „Joker“ habe ich fast anderthalb Jahre | |
gearbeitet. | |
Wow. | |
Ich habe Musik geschrieben, noch bevor der Dreh begonnen hat. Sie haben die | |
Musik am Set benutzt. So konnte sie Einfluss nehmen auf das Spiel und auf | |
die Kinematografie. Alle Elemente konnten gemeinsam wachsen. Das dauert | |
natürlich länger und ist mehr Arbeit, aber auch kreativ viel erfüllender. | |
Ich mag es nicht, an etwas zu arbeiten, wenn ich mich nicht ganz | |
hineinstürzen kann. Ich hatte viel Glück, dass beide Projekte mir das | |
erlaubt haben. | |
27 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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