# taz.de -- Abschluss der CTM 2020 in Berlin: Im unruhigen Dazwischen bleiben | |
> Schatten, Schwindel, Erschütterungen: Dem Berliner Festival CTM für | |
> Musik, Performance, Kunst, Diskurs gelang dieses Jahr die Reise ins | |
> Unbekannte. | |
Bild: CTM-Höhepunkt: Hildur Guðnadóttir mit einer Liveversion ihrer Musik f�… | |
Ausnahmesituationen, in denen Gewissheiten ausgehöhlt und Orientierungen | |
durcheinandergewirbelt werden, weil tiefgreifende Veränderungen bevorstehen | |
– gemütlich klingt es nicht gerade, was der Begriff Liminalität umschreibt. | |
Der Anthropologe Victor Turner prägte in den 1960er Jahren den Begriff, der | |
vor allem auf rituell begleitete Schwellenzustände zielt, auf Übergänge und | |
Zwischenphasen, die Individuen oder auch Gruppen durchlaufen und die als | |
solche freilich ziemlich aufreibend sein können. | |
Klar, dass man diese ähnlich aufregend vertonen muss, mit Musik, die an | |
Hörgewohnheiten kratzt – keine Klänge zum Zurücklehnen. Gemütlich ist | |
vielleicht aber ohnehin das letzte Attribut, das einem zum [1][Berliner | |
Festival CTM einfallen würde, das sich in diesem Jahr den Titel „Liminal“] | |
gegeben hatte. | |
Die Idee eines unruhigen Dazwischen passt hingegen sehr gut zur CTM. Vor | |
gut 20 Jahren als musikalisches Beiwerk zur Transmediale ins Leben gerufen, | |
hat sich das Festival inzwischen längst aus diesem Schatten geschält, mit | |
einem konzeptuell experimentellen Programm, das sich Genregrenzen | |
verweigert, vielmehr querbeet Klänge unserer Zeit vermengt, Musik, bildende | |
Kunst, Performance, Diskurs und Dance, E und U sowieso. | |
An der Schwelle zu etwas Neuem steht die CTM 2020 in anderer Hinsicht auch | |
selbst: Erstmals für vier Jahre am Stück profitiert das Festival von der | |
spartenoffenen Förderung des Berliner Kultursenats. Die Avantgarde hat sich | |
etabliert und bleibt doch glücklicherweise gewohnt sperrig und offen für | |
Abwegiges. | |
## Wovon man noch nie etwas gehört hat | |
Wer sonst käme auf die Idee, ein solches Programm auf die Bühne des | |
Berghains zu heben wie am vergangenen Donnerstag (30. Januar)? Der Abend | |
begann in der sphärischen Stimmlage der Transsängerin Lyra Parmuk; im | |
Anschluss sang der georgische Nationalchor, das Ensemble Basiani, zu den | |
dunklen Technoklängen von Nene H. | |
Es folgten unter anderem ohrenbetäubende, Folklore und | |
Experimentalelektronik vermengende Kompositionen auf selbstgebastelten | |
Instrumenten und Synthesizern des indonesischen Duos Raja Kirik, dann | |
kenianischer Metal des Duos Duma – dessen mackerhaftes Gehabe einem den | |
Spaß jedoch doch etwas trübte – und schließlich der düster-ekstatische | |
Techno des wie immer großartigen Andy Stott. „Shadow Twirl“ lautete der | |
Titel der Clubnacht, die einmal mehr bewies, dass die CTM oft genau dann am | |
besten ist, wenn man von vielen der Acts noch nie etwas gehört hat. | |
Auch das hängt mit Übergängen zusammen, geographischen nämlich. In diesem | |
Jahr arbeitete die CTM unter anderem mit dem Nyege Nyege Festival aus | |
Uganda und der Initiative Nusasonic zusammen, die das Festival mit drei | |
Plattformen aus Südostasien vernetzt. | |
Den hohen Erwartungen absolut gerecht wurde die [2][preisgekrönte | |
Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir,] die am Mittwoch und Donnerstag in der | |
Betonhalle des Silent Green im ehemaligen Weddinger Großkrematorium mit | |
einer Liveversion ihrer Musik für die TV-Serie „Chernobyl“ bespielte. Es | |
war ein schwindelerregendes, mitunter Mark und Bein erschütterndes | |
Zusammenspiel aus Noise und Strobo-Licht wie aus einer anderen, | |
verstörenden Welt, für viele Besucher:innen der Höhepunkt des Festivals. | |
## Ein Gespräch zwischen Alexa und Siri | |
Andere Grenzen suchte man am späteren Mittwochabend zu überwinden, die | |
nämlich zwischen Kunst und Musik, als CTM und transmediale einen | |
gemeinsamen Abend im Berghain ausrichteten. Mit dabei waren unter anderem | |
Wesley Goatley mit seiner auch in der CTM-Ausstellung als Installation zu | |
sehenden Performance „Chtonia“, einem Gespräch [3][zwischen Amazons Alexa | |
und Apples Siri] – bei dem übrigens Siri weitaus smarter wegkommt als Alexa | |
–, Demystification Committee mit einer eher visuell interessanten | |
Audio/Video-Performance zu (Fake)-News bei den Brexit-Abstimmungen und | |
deren wirtschaftlichen Auswirkungen sowie Johanna Bruckner mit einer | |
Multimedia-Tanz-Perfomance zu posthumaner Intimität. | |
Leider war es bei Letzterer in der Menge kaum möglich, viel mehr als hin | |
und wieder einen Blick auf ein paar zuckende Arme, Köpfe oder Münder zu | |
erhaschen. Schade war das, aber machte immerhin Lust, die aktuelle | |
Ausstellung der transmediale im Haus der Kulturen der Welt zu besuchen, wo | |
Bruckner mit einer Zwei-Kanal-Videoinstallation vertreten ist. | |
## Der Wertschöpfung entzogen | |
Empfehlenswert ist auch ein Besuch in der daadgalerie, wo Sergey Kasisch, | |
aktuell Gast des Berliner Künstlerprogramms in der Sparte Musik, das | |
Nichts, die Leere hörbar macht (die Ausstellung läuft noch bis zum 13. | |
Februar). Was dort in den Galerieräumen übersteuerten Mikrophonen, die | |
einer Partitur folgend Sound aufnehmen, als Resonanzkörper dient, stand | |
zuvor in besetzten Häusern herum oder gehörte zum Hausstand Obdachloser. | |
Allesamt sind es Dinge, die der neoliberalen Wertschöpfungskette entzogen | |
wurden, mit denen Menschen gelebt haben, die aus Not oder als bewusste | |
Entscheidung kaum etwas besitzen. Kasisch hat diese ausgesonderten Objekte | |
den Obdachlosen oder Hausbesetzer:innen zum Teil abgekauft, denn auch darum | |
geht es ihm: mit seiner Kunst tatsächlich in die gegebenen Verhältnisse | |
einzugreifen. | |
Der Installation selbst gelingt es, als subtile Vertonung der komplizierten | |
Gemengelage urbaner Verdrängungsmechanismen Fragen hervorzurufen nach dem | |
Wert des Raums, der Dinge und umso drängender nach den Menschen, die sich | |
mit diesen umgeben. Fragen, die hängen bleiben, nachwirken auch nach | |
Festivalende. So kann es weitergehen im kommenden Jahr, aufreibend und | |
aufregend. | |
3 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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