| # taz.de -- Elektronikproduzent über Lage der USA: „Systematische Benachteil… | |
| > Der New Yorker Künstler DeForrest Brown Jr. tritt beim Berliner Festival | |
| > CTM auf. Hier spricht er über Kybernetik als Waffe und Techno-Automation. | |
| Bild: DeForrest Brown Jr. liest „More Brilliant than the Sun“: Kodwo Eshons… | |
| taz: Herr Brown, der US-Publizist Ta-Nehisi Coates bezeichnete Donald Trump | |
| als „ersten weißen Präsidenten“. Damit insinuierte er, dass kein Präside… | |
| vor Trump jemals das eigene Weißsein in den Mittelpunkt seiner politischen | |
| Karriere gestellt habe. Können Sie mit dieser Charakterisierung etwas | |
| anfangen? | |
| DeForrest Brown Jr.: Coates’ Schriften und Gedanken sind interessant. Er | |
| positioniert sich deutlich und protestiert in seinen Büchern gegen die 500 | |
| Jahre andauernde, auch gewalttätige Benachteiligung der afroamerikanischen | |
| Bevölkerung. Dennoch: An dieser Stelle irrt Coates. Viele US-Präsidenten | |
| vor Trump waren Sklavenhalter und/oder weiße Nationalisten. | |
| Wer fällt Ihnen da etwa aus jüngerer Geschichte ein? | |
| Ronald Reagan zum Beispiel hat Afrikaner*innen als Affen beschimpft, die | |
| keine Schuhe tragen wollten. Reagan und vor ihm auch Richard Nixon haben | |
| den War on Drugs blindwütig vorangetrieben und damit disproportional die | |
| arme schwarze Bevölkerung kriminalisiert. | |
| Im Zuge des Sturms auf das Kapitol vergangene Woche war wieder die Rede von | |
| „weißen Privilegien“. Ist es etwa ein Ausdruck ebendieser, dass die Polizei | |
| zunächst nur zögerlich gegen Trump-Anhänger*innen vorgegangen ist? | |
| Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat einmal gesagt: „In | |
| unserem Land ist amerikanisch gleichbedeutend mit weiß. Alle anderen werden | |
| mit Bindestrich versehen.“ Das heißt: Die USA sind ein Land, das auf dem | |
| Genozid der indigenen Bevölkerung, dem Handel westafrikanischer [1][Sklaven | |
| und der Landnahme] der europäischen Siedler basiert. Afrikaner, die in | |
| Amerika geboren wurden, machte man im Laufe der Zeit zu „Schwarzen“ und | |
| „befreite“ sie am Ende des US-Bürgerkriegs 1865. Um es klar zu sagen: Auch | |
| heute sind Schwarze noch Geiseln der US-Regierung. Bis heute sind wir nicht | |
| in der Lage, gleichberechtigt teilzuhaben am Wohlstand der Nation, an ihren | |
| Rechten und Schutzpflichten, an ihrer Ökonomie. Die Normalisierung dieser | |
| unvollendeten Assimilation hat zur Folge, dass die Leugnung weißer | |
| Vorherrschaft und die Ungleichheit zwischen Schwarz und Weiß zum Standard | |
| wurde. | |
| Der Titel eines Ihrer Tapes heißt übersetzt „Der Lohn von Schwarzsein ist | |
| der Tod“. Was meinen Sie damit genau – und wie verbinden Sie diesen Titel | |
| mit den Ereignissen der letzten zwölf Monate, etwa dem Ausbruch von Corona, | |
| den Morden an Breonna Taylor und George Floyd, wie auch schweren Attacken | |
| auf Black-Lives-Matter-Aktivist*innen? | |
| Ich meine es so, wie es da steht. Schon als ich das Tape 2018 | |
| veröffentlichte, fragten mich viele Leute, was der Titel bedeutet. Die | |
| Reaktionen zeigen mir, dass es schwierig ist, das Leid Anderer | |
| anzuerkennen. Um es klar zu sagen: Neben George Floyd und Breonna Taylor | |
| starben im letzten Jahr 200 weitere Schwarze durch Polizistenhand. So kamen | |
| auch Hamza Nagdy und Kris Smith zu Tode. Beide waren Wortführer der | |
| Proteste rund um den Mord an Breonna Taylor in Louisville. Ich musste | |
| unweigerlich an die 1960er Jahre denken, als führende Köpfe der | |
| Bürgerrechtsbewegung umgebracht wurden. | |
| Glauben Sie an einen Zusammenhang? | |
| [2][Ein Artikel der Chicago Tribune von 2019] berichtet, dass nach den | |
| Protesten in Ferguson 2015 viele Aktivist*innen unter rätselhaften | |
| Umständen gewaltsam zu Tode gekommen sind: Deandre Joshua wurde mit einem | |
| Kopfschuss in einem ausgebrannten Auto gefunden; Darren Seals ebenso mit | |
| Schusswunden in einem Wagen. Danye Jones wurde erhängt an einem Baum | |
| gefunden. Wenn ein Schwarzer an einem Baum hängt, denke ich als Schwarzer | |
| automatisch, dass er von fünf Weißen dort aufgeknüpft wurde. Diese | |
| Lynchtradition ist so alt wie die USA selbst. | |
| 2020 erschien beim Londoner Label Planet Mu Ihr Album [3][„Black | |
| Nationalist Sonic Weaponry“] unter dem Alias Speaker Music. Wie definieren | |
| Sie Black Nationalism? | |
| Ich verweise mit dem Albumtitel darauf, dass ich mich mit Schwarzer | |
| Geschichte, Kultur und dem Konzept einer Schwarzen Nation intellektuell | |
| bewaffnet habe – was in kybernetische und improvisierte Schwarze Musik | |
| gemündet ist. Das Album ist mein Beitrag zu einer imaginären | |
| Befreiungsbewegung und steht damit in der Tradition der Free-Jazz-Szene der | |
| 1960er Jahre. Planet Mu spendet alle Einnahmen an die Organisation BEAM – | |
| Black Emotional and Mental Health Collective. | |
| Haben Sie Verknüpfungspunkte zur panafrikanischen Bewegung in Jamaika und | |
| der Rastafari-Kultur? | |
| Ich unterstütze das panafrikanische Projekt zur Befreiung von Gräueltaten | |
| der europäischen Kolonialgeschichte. Aber ich bin Amerikaner! Und lebe als | |
| Person, deren spirituelle Heimat ein Afrika ist, das ich selbst nur | |
| imaginieren kann; und niemals mehr erlebe. | |
| Ihr Album bezeichnen Sie als Analyse von Rhythmus sowohl in seinen | |
| Strukturen als auch als signifikantes Merkmal afrikanisch-amerikanischer | |
| (Pop-) Musik. Können Sie das anschaulich erklären? | |
| Die Geschichte der Schwarzen Musik ist unvollständig, da Sklavenhalter | |
| ihren Sklaven jegliche Bildung verweigerten. Es gab keine Möglichkeit der | |
| (kulturellen) Aufzeichnung: Keine Schrift, niemand konnte lesen, und es war | |
| unter Strafe verboten, afrikanische Sprachen zu sprechen. Nur Musik als | |
| orale Kulturform gab uns die Möglichkeit zu kommunizieren und sogar Wissen | |
| zu mehren. Auch hier ist die Geschichte wieder voller Ereignisse, in denen | |
| Weiße Attacken auf die schwarze (Musik-) Kultur fuhren: Das | |
| Black-Wall-Street-Massaker 1921 in Tulsa; die „Disco Demolition“ in Chicago | |
| 1979; das MOVE-Bombenattentat in Philadelphia 1985. | |
| In dem Mixtape und Essay „Stereomodernism“ korrigieren Sie die Ihrer | |
| Meinung nach „eurozentrische“ Techno-Geschichte, die stets die Band | |
| Kraftwerk als Erfinder von Techno propagiert. Hat Techno eigentlich je die | |
| Rolle in der Schwarzen Community gespielt, die Sie ihr zuschreiben? | |
| Techno ist einer unter vielen Musikstilen, der entstanden ist, als wir | |
| afrikanisch-amerikanischen Menschen zusammengekommen sind, um etwas | |
| Eigenständiges zu kreieren; so wie auch Blues, Rock ’n’ Roll, Jazz, Soul, | |
| Funk, Disco, HipHop, House, Footwork, Drill, Trap. Ich habe das Konzept | |
| „Stereomodernism“ von der Poetin Tsitsi Ella Jaji entliehen, um eine Brücke | |
| zwischen elektronischer Musik aus den USA und dem Rest der afrikanischen | |
| Diaspora zu schlagen. Zum Eurozentrismus: [4][Tony Herrington] hat es im | |
| britischen Musikmagazin The Wire mal so beschrieben: Die Wurzeln von Techno | |
| liegen in der rhythmischen Technologie und in afrofuturistischen Konzepten, | |
| die in den frühen 1970ern angelegt wurden. Vor Kraftwerks Signatursong | |
| „Autobahn“ gab es schon Visionäre wie Herbie Hancock, Bernie Worrell und | |
| Stevie Wonder. | |
| Glauben Sie, dass der Tod des [5][House-Pioniers Mike Huckaby], der 2020 an | |
| Covid-19 starb, auch mit weißen Privilegien in Zusammenhang steht? Dass | |
| jene, die immer in ihrer Community geblieben sind – etwa weil ihnen | |
| aufgrund von strukturellem Rassismus der Zugang zu höheren Weihen verwehrt | |
| blieb –, eben härter getroffen werden als andere, die es sich leisten | |
| können, sich vor dem Virus zu schützen? | |
| Während der ersten Corona-Welle steckte ich in der Recherche zu meinem Buch | |
| und hörte beim Schreiben oft Musik des Detroiter Produzenten Alone: „Has | |
| God Left This City?“. Dessen Tracktitel „7601 12th St.“ ist eine Adresse … | |
| Detroit; ich schaute sie nach und erkannte, dass dort ein Gebäude in einem | |
| schwarzen Viertel nahe dem Ford-Krankenhaus steht. In einem Zeitungsartikel | |
| über das Krankenhaus ging es um seine dramatische Situation, die schlechte | |
| medizinische Ausstattung, Personalmangel und die Anwendung der Triage. | |
| Zeitgleich stürmten weiße Anti-Lockdown-Protestler das Regierungsgebäude in | |
| Michigans Hauptstadt Lansing. Reicht das als Antwort? | |
| Ein Titel Ihres Albums heißt „American Marxists Have Tended to Fall into | |
| the Trap of Thinking of the Negroes as Negroes, i. e. in Race Terms, When | |
| in Fact the Negroes Have Been and are Today the Most Oppressed and | |
| Submerged Sections of the Workers …“ Ist das ein Zitat? | |
| Dieser Track wird gerne ignoriert, wenn über mein Album gesprochen wird. | |
| Ich glaube, genau aus der Voreingenommenheit, die darin angesprochen wird. | |
| Er zitiert den Aktivisten und Kybernetiker James Boggs, der aus Alabama | |
| nach Detroit kam und in der Autoindustrie arbeitete. Er schrieb 1963 diesen | |
| Satz, weil er sah, dass die Automation industrieller Arbeit | |
| überproportional stark ebenjene schwarze Arbeiterklasse traf. | |
| Und warum liegen Linke hier daneben? | |
| Weiße Amerikaner*innen und Europäer*innen wollen keine Verantwortung dafür | |
| übernehmen, was Schwarzen angetan wurde. Stattdessen verstecken sie sich | |
| hinter Analysen abstrakter Zahlen und Indikatoren. Während Schwarze immer | |
| weiter unterdrückt werden, unternehmen weiße Amerikaner*innen nichts | |
| dagegen, dass sich das ändern könnte – und verheddern sich lieber in | |
| Kämpfen zwischen politischen Lagern. Das war früher so und ist immer noch | |
| der Fall. | |
| 15 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zwei-Sachbuecher-ueber-Rassismus/!5487379 | |
| [2] https://www.chicagotribune.com/nation-world/ct-ferguson-activist-deaths-bla… | |
| [3] https://speakermusic.bandcamp.com/album/black-nationalist-sonic-weaponry | |
| [4] /Britisches-Musikmagazin-The-Wire/!5172046 | |
| [5] /Nachruf-auf-US-Produzent-Mike-Huckaby/!5678571 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Black Lives Matter | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Techno | |
| Festival CTM | |
| Techno | |
| Kolumne Durch die Nacht | |
| Games | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Games | |
| Streaming | |
| US-Wahl 2024 | |
| Musik | |
| Detroit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Techno-Album von Speaker Music: Arbeitskräfte der Zukunft | |
| Der US-Produzent Speaker Music veröffentlicht das neue Album „Techxodus“. | |
| Das überführt sein Buch „Assembling a Black Counter Culture“ in Musik. | |
| Techno und Black Music matters: Die Geburt der modernen Tanzmusik | |
| Plötzlich ist es wieder mal eine Frage, wo denn zuerst zu Techno getanzt | |
| wurde. Vielleicht ist das ein Versuch, schwarze Musik weiß zu waschen. | |
| Game-Expertin über die Spiele der Nazis: „Eine Gamefizierung von Terror“ | |
| Computerspiele boomen – was Rechtsradikale geschickt ausnutzen. Die | |
| Gamerszene muss sich eindeutiger von ihnen distanzieren, fordert Veronika | |
| Kracher. | |
| Korruptionsverdacht bei Grammys: Das bisschen Symbolpolitik | |
| Undurchsichtige Entscheidungen und Doppelmoral: Die Kritik an den Grammy | |
| Awards wird lauter. Nun wurden auch noch sinkende Einschaltquoten publik. | |
| Elektronisches Musikfestival Berlin: Wer hört wem zu? | |
| Spielplatz für globalen Klang: Das CTM-Festival wechselt in seiner | |
| Corona-Ausgabe von einer kleinen Nerdwelt in eine größere mit Gameformaten. | |
| Auftakt Festival CTM Berlin: Etwas Wärme für Cyberia | |
| Am Mittwoch startet das elektronische Musikfestival CTM in Berlin – als | |
| Onlineversion. Was ist möglich und was nicht? | |
| Künstlerin und Aktivistin über die USA: „Es steht viel auf dem Spiel“ | |
| Die Künstlerin Marisa J. Futernick hat über Presidential Libraries | |
| gearbeitet. Ein Gespräch über Trumps Vermächtnis und das Regierungssystem | |
| der USA. | |
| Abschluss der CTM 2020 in Berlin: Im unruhigen Dazwischen bleiben | |
| Schatten, Schwindel, Erschütterungen: Dem Berliner Festival CTM für Musik, | |
| Performance, Kunst, Diskurs gelang dieses Jahr die Reise ins Unbekannte. | |
| Debütalbum von Waajeed aus Detroit: Funk und Dreck und Tech | |
| Der Dancefloor-Produzent Waajeed veröffentlicht sein Debütalbum „From the | |
| Dirt“. Es ist choreografiert wie ein Gospelgottesdienst. | |
| Britisches Musikmagazin "The Wire": "Absolut unverkäuflich" | |
| Das Magazin "The Wire" ist eine echte Ausnahme in der britischen | |
| Zeitungslandschaft. Es ist innovativ, kritisch und ganz anders als | |
| professionelle Langeweile des Popjournalismus. |