| # taz.de -- Elektronisches Musikfestival Berlin: Wer hört wem zu? | |
| > Spielplatz für globalen Klang: Das CTM-Festival wechselt in seiner | |
| > Corona-Ausgabe von einer kleinen Nerdwelt in eine größere mit | |
| > Gameformaten. | |
| Bild: Club Matryoshka, CTM Projekt | |
| „Was ist noch mal dieses Twitch?“, fragt ein Kollege. Über den | |
| Internetdienst nämlich könne man zuschauen, beim CTM-Event am Samstag. Das | |
| ist schon auch bizarr: Bis letztes Jahr sind Menschen beim Besuch des | |
| Festivals für elektronische Musik wie in jedem Januar quasi für eine Woche | |
| im Berliner Club Berghain aufgeschlagen und waren erfinderisch, um vorbei | |
| an der angeblich härtesten Tür Deutschlands zu kommen. Nun finden sie sich | |
| schwerlich zurecht auf einer der zugänglichsten Internetseiten überhaupt. | |
| Twitch ist ein Streaming-Angebot für Videospiele und gehört zu den | |
| meistbesuchten Webseiten der Welt. Es überträgt, seiner Kernkompetenz | |
| angemessen, live von den zwei Floors des Clubs Matryoshka. Der liegt | |
| nämlich in der Benutzeroberfläche von Minecraft, einem | |
| Online-Open-World-Spiel mit über 100 Millionen monatlichen Nutzer:innen. | |
| [1][Das CTM-Festival] wechselt ohne Aufsehen in seiner Corona-Ausgabe von | |
| einer kleinen Nerdwelt in eine größere. Das Festival gilt standesgemäß | |
| hierzulande als Ascot der elektronischen Avantgarde, mit schwarzem | |
| Turtleneck statt Fascinator – auch in Berlin gilt sehen und gesehen werden. | |
| ## Labor für Medienkultur | |
| Glücklicherweise war das CTM aber einst nicht nur Clubfestival, sondern | |
| auch Labor für Medienkultur. Das Digitale steckt also im Coding, das | |
| Experiment mit dem Minecraft-Club wurde schon im Sommer erfolgreich | |
| ausprobiert und jetzt erneut, und um weitere Level, Dschungelfloors und | |
| Lavawelten erweitert. | |
| Sechs Stunden konnten am Samstag passive Beobachter*innen zu Hause | |
| durch die Clubnacht mit 18 Acts gleiten – oder man spielte eben mit und | |
| erkundete den Planeten Alpha Lebbeus alleine oder zusammen mit anderen. DJ | |
| Sonia Calico aus dem taiwanesischen Taipeh raste mit Samples von | |
| ostasiatischen Instrumenten in unbarmherzigen Tempo darüber, zum Abschluss | |
| spielte die Produzentin W00dy aus Baltimore in einer gigantischen | |
| Klötzchenblüte. | |
| „Transformation“ ist das Motto des CTM-Festivals 2021. Es findet komplett | |
| digital statt und nutzt den Raum der technologischen Möglichkeiten, um ein | |
| noch globaleres, weniger weißes, weniger männliches Festival auf die Bühne | |
| zu stellen – auf einer virtuelle Bühne, bei der sich mit abgefilmten | |
| Performances niemand begnügen mag: Das Duo Gabber Modus Operandi, das | |
| rituelle indonesische Trance-Tänze mit Footwork und Grindcore verbindet und | |
| ein spektakulär euphorisches Werk darbot, entführte visuell in eine von | |
| Arcade-Game-Ästhetik inspirierte, virtuelle, südostasiatisch surreale | |
| Landschaft. Der treibend-hypnotische Auftritt der Nakibembe Xylophone | |
| Troupe in ihrem ugandischen Heimatdorf wird dokumentarisch begleitet vom | |
| ugandischen DJ Don Zilla. | |
| ## Baustellen inbegriffen | |
| Auch abseits der Bühne will CTM die Festivalerfahrung vollständig online | |
| nachbilden und erweitern: Statt Smalltalk an der Bar gibt es den | |
| Discord-Server, noch so eine Plattform aus der Welt der Videospiele mit | |
| Möglichkeiten für video- und textbasierte Gespräche. Statt Club gibt es die | |
| virtuelle Realität „CTM Cyberia“. Zum Starttermin flimmert allerdings ein | |
| neongelber Balken über die Seite, wegen „unvorhersehbarer technischer | |
| Probleme“ verspäte sich der Beginn. Ein Balken, der zuvor auch einige Tage | |
| über die Seite der Software „Apotome“ lief. | |
| Das Projekt des irakischen Soundkünstlers Khyam Allami, das nach | |
| Anfangsschwierigkeiten nun seit Freitag online steht, stellt ein | |
| browserbasiertes Kompositionsprogramm zur Verfügung, das nicht in | |
| westlichen Klangtraditionen wurzelt – ein radikales Versprechen, das als | |
| Nebeneffekt exotistische Reflexe füttert: Wenn die erste Schaltfläche | |
| verschiedene Stimmsysteme wählen lässt, von der chinesischen | |
| Kuan-Tzu-Pentatonik zu den Xylophon-Tönen des gambischen Madinka-Balafons, | |
| wird globaler Klang sichtbar, aber für hiesige User:innen auch leicht zum | |
| ahistorischen Spielplatz. | |
| So stellt sich auch die Systemfrage von Pop: Wer eignet sich was an und wer | |
| hört wem zu? Die Berliner Wissenschaftlerin Emma Lo spricht im | |
| Diskursprogramm gar von einem kulturimperialistischen | |
| „Techno-Primitivismus“. Ist dieser tatsächlich nicht für Künstler*innen | |
| gemacht, die durch die westlichen Färbung der Algorithmen nur unter hohem | |
| Aufwand in ihrer eigenen musikalischen Sprache arbeiten können? | |
| „Nicht alles wird klappen, einiges wird schiefgehen“, entschuldigt sich | |
| CTM-Festivalkurator Jan Rohlf in einem kleinen Eröffnungsstatement vorab. | |
| So ambitioniert ins Digitale wanderte bislang kaum ein Festival, Häme also | |
| ist nicht angebracht. Dass die technischen Probleme aber schon bei | |
| Livestreams aus Berlin anfangen und sich Verzögerungen und Glitches über | |
| Tage einstellen, ist ein bisschen schade. Zum Alltag einer analogen | |
| Festivalerfahrung – Rumstehen, Warten gehört auch, einmal etwas nicht | |
| sofort verstehen zu können. Beim CTM 2021 verbringt man diese Minuten | |
| immerhin auf der Couch. Der Funke springt trotzdem über. | |
| Die eigentliche Eröffnung blieb am Donnerstag dem Diskursprogramm | |
| vorbehalten. Fragen, die das Panel „Critical Modes of Listening“ | |
| aufmachte, sind komplex: Wie hängen Klang, Macht und Ethnizität zusammen, | |
| welches transformative Potenzial steckt in transkulturellen | |
| Sound-Praktiken? Wie geht entkolonialisiertes Hören? Ob das Publikum diesem | |
| Pfad folgen wird, bleibt offen. Momente der Disruption und der | |
| Rekontextualisierung von Klang und Klangassoziationen waren jedenfalls | |
| willkommen. | |
| 25 Jan 2021 | |
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| [1] /Auftakt-Festival-CTM-Berlin/!5744675 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffen Greiner | |
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