| # taz.de -- Film „Petite Maman“ von Céline Sciamma: Befreites Spielen im Z… | |
| > Die französische Regisseurin Céline Sciamma hat mit „Petite Maman“ einen | |
| > Zeitreisefilm gedreht. Sie leistet darin magische Trauerarbeit. | |
| Bild: Ist Nelly (Joséphine Sanz) wirklich allein im Haus ihrer Großmutter? | |
| Was für mitreißende Heldinnen, eigensinnige Pionierinnen, berührende | |
| Utopistinnen! Die Figuren der französischen Regisseurin Céline Sciamma | |
| betreiben Geschichtsschreibung in eigener Sache. Zaghaft oder entschlossen, | |
| vorsichtig oder energisch suchen sie sich ihre Geschichte – und erkunden | |
| damit auch einen utopischen Raum: in einer Wohnburg am Stadtrand von Paris, | |
| in einer Hochhaussiedlung in der Provinz oder auf einer abgeschiedenen | |
| Insel vor der französischen Atlantikküste. | |
| In dem [1][Kostümfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019)] folg… | |
| eine Malerin und ihr Modell ihren Gefühlen füreinander, ihrem Begehren, das | |
| im 18. Jahrhundert noch keine Vorbilder, keine Semantik und keine Codierung | |
| kennt. Vic, Lady, Adiatou und Fily aus der [2][dokumentarischen Erzählung | |
| „Mädchenbande“ (2014)] entwickeln als Gang eigene Posen, einen eigenen | |
| Ausdruck und machen sich mit wütenden Tanzchoreografien von der Banlieue | |
| auf ins Zentrum von Paris. | |
| [3][Laure aus dem Film „Tomboy“ (2011)] nennt sich nach dem Umzug ihrer | |
| Familie Michael und trägt Jungsklamotten. Sie/Er erkundet die Umgebung und | |
| sich selbst, beim Fußballspielen, in der Clique, bei Mutproben. Und nun | |
| nimmt uns die kleine Heldin aus Sciammas neuem Film „Petite Maman – Als wir | |
| Kinder waren“ mit an einen Ort, den es eigentlich nicht geben kann, liegt | |
| er doch in der Vergangenheit. | |
| „Petite Maman“ ist ein Zeitreisefilm, der seine verwunschenen Bilder aus | |
| der Ernsthaftigkeit von Kinderspielen entwickelt, bedingungslos die | |
| Perspektive seiner Protagonistin einnimmt, ihre Empfindungen teilt und | |
| mitteilt. | |
| Zum letzten Mal besucht die achtjährige Nelly das Altersheim ihrer | |
| Großmutter. Sie blickt auf das leere Bett, geht durch die stillen Gänge und | |
| verabschiedet sich von den anderen älteren Damen. Auch im Haus der | |
| Großmutter ist Stille eingekehrt, die Möbel sind fast alle ausgeräumt, die | |
| Gegenstände in Kartons verpackt. Nelly schläft im Kinderzimmer ihrer | |
| Mutter, gemeinsam schauen sie sich deren alte Schulhefte an. „Deine | |
| Rechtschreibung war nicht die beste“, sagt die im Bett liegende Kleine von | |
| oben zu ihrer auf dem Boden kauernden Mutter. | |
| ## Nelly möchte die Welt erfahren | |
| Beiläufig entsteht hier eine Rollenverschiebung. Eine trauernde Mutter wird | |
| zum Kind, während ihr Kind, das die Trauer auffangen will, erwachsen wirkt. | |
| Im Auto füttert Nelly ihre Mutter mit Erdnussflips. Sie selbst mümmelt sie | |
| wie ein Häschen in sich hinein, und man fragt sich, welche Gedanken ihr | |
| dabei durch den Kopf gehen mögen. | |
| Schon Nellys Gang hat etwas Beherztes, Entschlossenes. Jedem ihrer Schritte | |
| meint man anzusehen, dass sie die Welt erfahren möchte. Wenn sie den Wald | |
| rund um das Haus der Großmutter durchforstet, übernimmt die Kamera ihre | |
| Entdeckungslust und Offenheit. Nellys Streifzüge sind auch Reisen in die | |
| Vergangenheit und eine Form der Selbstbehauptung, sucht sie doch die Spuren | |
| ihrer mittlerweile abgereisten Mutter. Etwa den Unterschlupf, den diese | |
| einst aus Ästen und Zweigen zwischen Bäumen errichtete. | |
| Dort entdeckt Nelly ein anderes kleines Mädchen, das sich gerade eine Höhle | |
| baut. Es fordert Nelly auf, ihr beim Tragen eines schweren Astes zu helfen. | |
| Ohne viele Worte vertiefen sich beide in die gemeinsame Tätigkeit. | |
| ## Ein fantastischer Abenteuerfilm | |
| Trifft Nelly hier auf ihre Doppelgängerin? Jedenfalls sehen die beiden | |
| Mädchen fast identisch aus, gespielt werden sie von den Zwillingen | |
| Joséphine und Gabrielle Sanz. Als es heftig zu regnen beginnt, flüchten sie | |
| in das Haus der neuen Freundin, die schon wie eine Vertraute wirkt. Dort | |
| scheinen die bereits verpackten Gegenstände und die Einrichtung der | |
| Großmutter wieder an Ort und Stelle zu stehen. | |
| Der Gehstock der Mutter des anderen Mädchens ist identisch mit dem von | |
| Nellys Großmutter. Auch die Toilette befindet sich im Haus an derselben | |
| Stelle. Für Nelly gibt es keinen Zweifel mehr: Bei der Spielkameradin | |
| handelt es sich um ihre achtjährige Mutter Marion. | |
| „Petite Maman“ ist ein fantastischer Abenteuerfilm, eine magische | |
| Trauerarbeit und ein realistisches Kammerspiel unter Bäumen. Herbstlich | |
| sind die Farben der Blätter, das Dickicht ist noch dicht, die Pfade wirken | |
| verschlungen. Anders als in einem Märchen ist dieser Wald weder düster noch | |
| bedrohlich, eher ist er Schutz- und Spielraum, in dem Nelly und Marion die | |
| Verwandlung, die Verzauberung regelrecht suchen. | |
| Sie spielen Detektiv und Mörder, teilen Ängste und Sorgen, erfahren eine | |
| tiefe Innigkeit, die ihnen Rückendeckung für das Leben jenseits des Waldes | |
| geben wird. Nur einmal, als die beiden einen Paddelausflug mit Schlauchboot | |
| unternehmen, wird in diesem Film Musik erklingen. Es ist ein selbst | |
| geschriebener Song von Céline Sciamma: „Der Traum, ein Kind mit Dir zu | |
| sein …“ Diesen Traum erfüllen sich Nelly und Marion, sie leben die Utopie | |
| einer eigentlich unmöglichen Begegnung. | |
| 16 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anke Leweke | |
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