# taz.de -- Sozialdrama mit Juliette Binoche: Stippvisite bei der Arbeiterklasse | |
> In Emmanuel Carrères Film „Wie im echten Leben“ brilliert Juliette | |
> Binoche neben LaiendarstellerInnen. Sie mimt eine Putzfrau auf | |
> Undercovermission. | |
Bild: Die Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) lernt das „ec… | |
„Und nach den zwei Semestern Jura haben Sie nichts mehr gemacht?“, fragt | |
die Frau vom Arbeitsamt die jobsuchende Marianne Winckler, die vor ihr | |
sitzt und eindeutig schon in mittleren Jahren ist. Na ja, sie sei eben | |
Hausfrau gewesen, sagt Marianne. | |
Später wird sie einer Arbeitskollegin erzählen, dass ihr Ex-Mann eine | |
Reparaturwerkstatt betreibe, da habe sie die Buchhaltung gemacht. Als der | |
Gatte sie einer Jüngeren wegen verlassen hätte, habe sie um jeden Preis | |
wegziehen wollen, in eine Stadt, wo sie niemanden kenne. So sei sie in | |
Caen, in der Normandie, gelandet. | |
Und wenn wir nicht schon wüssten, wovon „Wie im echten Leben“ handelt, | |
würden wir Marianne jedes Wort abnehmen, so überzeugend ist [1][Juliette | |
Binoche in ihrer Rolle] als kleinbürgerliche Ex-Hausfrau, die nun lernen | |
muss, wie es sich anfühlt, für wenig Geld den Dreck anderer Leute | |
wegzumachen. | |
In unserer Wirklichkeit spielt Juliette Binoche allerdings sozusagen eine | |
Metarolle, denn Marianne Winckler ist in der filmischen Wirklichkeit gar | |
nicht das, was sie zu sein vorgibt, sondern eine Autorin auf | |
Undercovermission, die für ihr nächstes Buch recherchiert. | |
## Marianne bleibt in ihrer Putzfrauenrolle | |
Ihre Vorgeschichte bleibt weitgehend unbeleuchtet, implizit wird | |
nahegelegt, dass sie sich einen Namen mit sozialkritischen Büchern gemacht | |
hat. Regisseur Emmanuel Carrère überlässt es uns, aus dem Geschehen ein | |
Bild von dieser Frau zu gewinnen, die erst nach einer ganzen Weile zum | |
ersten Mal aus ihrer Putzfrauenrolle heraustritt, als sie in einem | |
unbeobachteten Moment heimlich Stichworte zu einer Geschichte notiert, die | |
eine Kollegin ihr gerade erzählt hat. | |
Die Frauen, deren Sätze in Mariannes Notizbuch landen, sind ausgerechnet | |
jene, mit denen sie sich anfreundet: Marilou (Léa Carne), die noch jung | |
genug ist, davon zu träumen, auf und davon zu gehen und anderswo nach einem | |
besseren Leben zu suchen. Und Christèle, eine energische Frau in den | |
Dreißigern, die drei Kinder durchbringen muss und die in der Eingangsszene | |
einen Riesenwirbel veranstaltet, weil das Arbeitsamt einen Antrag | |
verschlampt hat, den sie fristgerecht eingereicht hatte. | |
Diese Christèle wird gespielt von der großartigen Hélène Lambert, die, wie | |
alle anderen außer Binoche, keine professionelle Schauspielerin ist. Neben | |
Lamberts selbstbewusster, natürlicher Präsenz scheint das differenzierte | |
Spiel von Juliette Binoche manchmal fast etwas zu verblassen; vielleicht | |
gerade deshalb, weil es kenntlich wird als das, was es ist: große | |
Schauspielkunst. | |
Aber eben die gilt es ja auch zu zeigen und dabei subtil offenzulegen, denn | |
nichts anderes als eine Schauspielerin ist Marianne in ihrer Rolle als | |
Marianne-die-Putzfrau – gleichzeitig ist sie ganz echt in ihrer Zuneigung | |
zu Christèle. Christèle dagegen muss einfach nur sie selbst sein. | |
Und während sich zwischen den Frauen eine tiefe Freundschaft entwickelt, | |
merkt Marianne, dass das Buch, das sie schreibt, hauptsächlich von | |
Christèle handelt. Eine ambivalente Sache: Zum einen zeigt sich darin ihre | |
persönliche Verbundenheit; zum anderen bedeutet es, dass Marianne die | |
andere für ihre Zwecke ausnutzt – und sie darüber im Unklaren lässt. | |
## Kein reines Sozialdrama | |
Die Beziehung zwischen den beiden Frauen, oder überhaupt alle | |
zwischenmenschlichen Beziehungen, steht narrativ klar im Vordergrund dieses | |
Films, der daneben von den prekären Daseinsbedingungen der französischen | |
ArbeiterInnenklasse handelt und lose auf einem Roman der Autorin Florence | |
Aubenas basiert. | |
Emmanuel Carrère hat kein reines Sozialdrama gedreht, sondern vielmehr eine | |
philosophisch grundierte Buddygeschichte, hinter der ein paar unangenehme | |
Wahrheiten über die französische Klassengesellschaft und das elitäre | |
Selbstverständnis ihrer Intellektuellen aufscheinen. | |
Es war Juliette Binoche selbst, die das Projekt vorangetrieben und | |
[2][Carrère dafür angeworben hatte, der vor allem als Schriftsteller und | |
Drehbuchautor bekannt] ist. Binoche ist die einzige Profischauspielerin im | |
Cast – das steht zumindest im Presseheft. | |
Also wird es wohl wahr sein, ist aber kaum zu glauben, so | |
selbstverständlich agieren alle Beteiligten vor der Kamera. Es fällt | |
leicht, sich vorzustellen, dass bei den Dreharbeiten eine ähnlich | |
freundschaftliche Atmosphäre geherrscht haben muss wie unter den | |
KollegInnen des Putztrupps, bei dem Marianne angeheuert hat. | |
## Ein Knochenjob, stoisch ertragen | |
Vom Hafen Ouistreham, vor Caen gelegen, gehen Fähren nach England, deren | |
Kabinen täglich in den eineinhalb Stunden zwischen Ein- und Auslaufen der | |
Fähre gereinigt werden müssen. Es ist ein Knochenjob, dessen mörderischen | |
Arbeitsbedingungen die Putzfrauen und -männer mit Stoizismus, Humor und | |
großem Gemeinschaftssinn begegnen. | |
Als eine von ihnen einen Servierjob bei der Kette Brioche Dorée ergattert | |
und die Truppe verlässt, wird gefeiert, als hätte die Glückliche mindestens | |
einen Sechser im Lotto. Für die Übrigen aber wird das Leben mit all seinen | |
Härten immer so weitergehen. | |
Außer für Marianne. Als sie am Schluss als Autorin auftritt, geschmackvoll | |
gestylt und geschminkt, scheint sie ein völlig anderer Mensch geworden zu | |
sein. Sie ist zurückgekehrt in ihre eigentliche Identität, ihre eigene | |
Klasse. | |
29 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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