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# taz.de -- Spielfilmdebüt „Aftersun“ im Kino: Wer beschützt hier wen?
> Charlotte Wells’ „Aftersun“ erzählt von einem Sommerurlaub von Vater u…
> Tochter. Die Erzählung hält Wells faszinierend in der Schwebe.
Bild: Calum (Paul Mescal, l) und Sophie (Frankie Corio) in „Aftersun“
Vater und Tochter sind nicht unbedingt das gängigste Gespann im Kino. Für
Buddy-Movies eher ungeeignet, für eine Rivalenbeziehung à la Vater und Sohn
oder [1][Mutter und Tochter] zu unterschiedlich. Dennoch machen sie sich
gut zusammen auf der Leinwand, denn es schwebt viel Unausgesprochenes
zwischen ihnen, wie generell zwischen Eltern und Kindern, und das birgt
solides Konfliktpotenzial.
Charlotte Wells’ Spielfilmdebüt „Aftersun“ wartet mit zwei charakterlich
sehr verschiedenen, aber einnehmenden Protagonist*innen auf: mit einer
scheinbar sorglosen, eher forschen Prä-Teenagerin und ihrem Vater, in dem
viel Liebe für sie, aber auch eine Menge undefinierbarer Gefühle
schlummern.
Sophie (Frankie Corio) ist 11 und kommt aus Edinburgh. Ihre Eltern leben
getrennt, mit dem Vater Calum (Paul Mescal), der nach London gezogen ist,
verbringt sie einen Sommerurlaub an der türkischen Riviera. So weit, so
gewöhnlich. Doch an der Machart des Films ist nichts gewöhnlich, nicht
zuletzt, weil er das Publikum in der Schwebe hält und von einem Abschied
erzählt, den man im übertragenen oder buchstäblichen Sinne interpretieren
kann.
Am Ende des Urlaubs winkt Sophie in Sommerkleidung am Flughafen ihrem Papa
zu. Der sagt „I love you“, und sie antwortet mit derselben Formel. Das Bild
ist körnig und verwackelt – aufgenommen mit einer Videokamera in den 1990er
Jahren. Sie hält im Film während des Urlaubs bruchstückhafte Szenen fest,
fungiert aber auch als Kommunikationsmittel, meist mit Sophie als
Kamerafrau und Interviewerin. Manchmal bringt sie ihren Vater mit ihrer
Filmerei und Fragerei in Verlegenheit.
## Eine Zeit vor Handys und Smartphones
Die restlichen Bilder im Film entstammen offenbar Erinnerungen Sophies, die
man 20 Jahre später kurz im Heute sieht. Sie deuten darauf hin, dass sie
mit dem Abstand einer erwachsenen Frau versucht, Motivationen ihres damals
gleichaltrigen Vaters nachzuvollziehen.
In einer Zeit vor Handys und Smartphones filmt die private Kamera
Augenblicke, deren Dimension sich erst im Laufe des Films herausstellen
wird. Zunächst bedeutet die noch nicht vorhandene ständige Erreichbarkeit
aber Freiheit. Der Mutter entrichtet Sophie bei Ankunft am Urlaubsort in
einer roten Telefonkabine nur einen kurzen Gruß, während Calum noch einige
ihrer Instruktionen entgegennimmt. Danach sind beide auf sich selbst
gestellt in einem Ferienresort, wo man keine Einheimischen, dafür aber jede
Menge Landsleute kennenlernt.
Sophie ist in einem etwas undankbaren Alter, ist kein Kind mehr, aber zu
der britischen Jugendgang des Resorts gehört sie auch nicht richtig. Doch
sie kommt zurecht. Zur Verblüffung der Großen spielt sie beim Billard alle
an die Wand, und so entwickeln die älteren Jungs einen Beschützerinstinkt
für sie und knutschen mit den größeren Mädels.
In einem gleichaltrigen Jungen findet Sophie zunächst einen Partner beim
Arcade-Spielen, später erlebt sie mit ihm einen unspektakulären ersten
Kuss. Frankie Corio spielt die junge Sophie mit einer charmanten
Unbefangenheit, die mit der opaken Aura ihres nicht minder begabten
Filmvaters Paul Mescal kontrastiert. Während Sophie Erfahrungen sammelt,
scheint Calum zu stagnieren.
## Hingabe und Verzweiflung
Warum werden die Erinnerungen an einen scheinbar banalen Urlaub zu zweit so
detailreich geschildert, seien es Cringe-Momente Sophies wegen Papa, der
auch ihr bester Freund sein will, oder ihre plötzlich kleinmädchenhaften
Selbstvorwürfe, dass sie beim Tauchen versagt habe? Die Urlaubshandlungen
zwischen Strand, Ausflügen und musikalischer Abendbespaßung sind so
unspektakulär, dass man ihnen nicht traut.
Doch dann rückt der melancholische Calum in den Fokus und sein Tanz in
einer Disco zu Queens und David Bowies „Under Pressure“. In seiner Hingabe
und Verzweiflung erinnert er an Denis Lavants ekstatische Verrenkungen in
Claire Denis’ „Beau Travail“. Bebildert er womöglich den im Song
beschworenen „Last dance“?
Calums innere Verletzungen symbolisiert auch sein eingegipster Unterarm.
Die 11-jährige Sophie erfasst mitunter das schwermütige Wesen ihres Vaters,
doch wenn sie beim Philosophieren über bedrückende Gefühle sprechen will,
wiegelt Calum ab: Man sei doch hergekommen, um Spaß zu haben. Es ist schwer
zu sagen, wer hier wen beschützt. Ein unerschwinglicher, handgewebter
türkischer Teppich spielt eine Rolle, und eine achtlos dahingeworfene
Bemerkung Sophies scheint den dünnhäutigen Calum zu treffen.
So liegt trotz [2][Urlaubsfreuden wie Planschen im Pool], eines von Sophie
initiierten Geburtstagsständchens für den Papa oder der Abenteuerlust des
Mädchens stets ein latenter Schmerz über der Zweisamkeit. Es spricht für
diesen subtilen, in seiner Machart eher spröden und doch sehr zu Herzen
gehenden Film, dass er Geheimnisse nicht offenbart und sich für seine
Schilderung viel Zeit nimmt. „Aftersun“ erzählt mit einem herausragenden
Schauspielerduo von Ungesagtem, von ersten und letzten Malen sowie von
selbstverständlich empfundener Liebe und hallt noch lange nach.
14 Dec 2022
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## AUTOREN
Kira Taszman
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