| # taz.de -- Regisseur Jonas Carpignano im Interview: „Zeigen statt erklären�… | |
| > Die kalabrische Mafia ’Ndrangheta beeinflusste den neuen Film des | |
| > italienisch-amerikanischen Regisseurs Jonas Carpignano. In „Chiara“ | |
| > drehte er auch mit Laien. | |
| Bild: Die ’Ndrangheta in der eigenen Familie: Chiara (Swamy Rotolo) | |
| Jonas Carpignano findet seine Themen in unmittelbarer Gegenwart. Der | |
| Filmemacher lebt seit Jahren in der kalabrischen Hafenstadt Gioia Tauro, | |
| einem wichtigen Umschlagplatz des globalen Drogenhandels. Hier entstehen | |
| seine neorealistischen Filme mit Laiendarsteller*innen. Der jüngste, | |
| „Chiara“, erzählt von einer 15-Jährigen, die nach dem Verschwinden ihres | |
| Vaters nicht lockerlässt, bis sie die Wahrheit herausfindet – und die | |
| Mafia-Verstrickungen ihrer Familie entdeckt. | |
| taz: Herr Carpignano, wie ist die Idee zu „Chiara“ entstanden? | |
| Jonas Carpignano: Es lag nicht am Thema, ich wollte keinen Film „über“ die | |
| Mafia machen. Im Nachhinein war ein erster Moment, als vor Jahren ein | |
| entfernter Bekannter verhaftet wurde und ich mitbekam, welche Auswirkungen | |
| das auf seine Familie hatte, insbesondere seine Tochter. Es hat mich sehr | |
| berührt, wie sie darauf reagierte und wie sie ihr Umfeld plötzlich mit | |
| völlig neuen Augen sah, weil ihr so vieles klar wurde. Es hinterließ einen | |
| bleibenden Eindruck. | |
| Wie nah ist Ihr Film an dieser realen Geschichte? | |
| Das war 2014 passiert, kurz darauf erfuhr ich von dem Sozialprogramm, das | |
| auch im Film vorkommt, bei dem Jugendliche aus ihren Familien genommen | |
| werden, um sie so dem Einfluss der Mafia zu entziehen. Ich kannte jemanden | |
| aus dem Ort, der mit dieser Initiative für ein paar Jahre woanders lebte. | |
| Als ich überlegte, einen dritten Film über die Stadt zu machen, entschied | |
| ich mich für diesen Aspekt des Sozialgefüges, erzählt aus der Perspektive | |
| eines jungen Mädchens. Das interessierte mich, nicht die mafiösen | |
| Strukturen, die Logistik des Drogenhandels oder die Clankriege. Ich wollte | |
| die Geschichte einer Familie erzählen, die auch den Leuten hier aus dem Ort | |
| authentisch erscheint. | |
| Sie besetzen in Ihren Filmen durchgehend Laien. Wie fanden Sie Ihre | |
| Hauptdarstellerin Swamy Rotolo, die als Chiara mit ihrer eigenen Familie | |
| vor der Kamera steht? | |
| Auch bereits in dieser Zeit, aber rein zufällig, weil ich auf der Suche | |
| nach der Besetzung für „Pio“ war und dabei dieses junge Mädchen sah. Swamy | |
| war damals erst neun, hatte aber schon eine Wahnsinnsausstrahlung. Ich | |
| kannte ihre Cousins und andere Familienmitglieder, und sie hatte schon ein | |
| ähnlich taffes, selbstbewusstes Auftreten. Ich ahnte, dass sie das Zeug | |
| dazu hatte, einen Film als Hauptfigur zu stemmen. Diese Begegnung und wie | |
| Swamy im Laufe der Jahre heranwuchs, beeinflusste dann auch die Figur von | |
| Chiara. So ergab sich eins nach dem anderen, einfach weil ich dort lebte | |
| und alles aufsog wie ein Schwamm. | |
| Wie funktioniert die Arbeit mit nichtprofessionellen Darsteller*innen | |
| konkret? | |
| Keine Person ist wie die andere, das habe ich im Laufe der drei Filme | |
| gelernt. Es gibt nicht die eine Methodik, die mit allen funktioniert. Es | |
| geht darum, jeden Menschen als Individuum kennenzulernen und zu verstehen, | |
| wie jemand tickt, wo die Talente sind und auch die Grenzen. Jede Szene | |
| erfordert etwas anderes. Bei der großen Geburtstagsfeier etwa, die den | |
| Hauptteil der ersten Filmhälfte ausmacht, haben wir uns als Crew so | |
| unsichtbar wie möglich gemacht und die Dinge weitgehend laufen lassen. | |
| Die Leute wussten, was sie zu tun hatten, und ich sprang nur hin und wieder | |
| mit kleinen Anweisungen dazwischen. Aber dieses Loslassen war für einige | |
| der Darsteller*innen sehr wichtig, nur so konnte diese Atmosphäre | |
| entstehen, die eben nicht gestellt wirkt, sondern wie ein echtes Fest. In | |
| anderen Momenten, etwa beim Streit [1][zwischen den beiden Schwestern], | |
| brauchten die beiden Mädchen einen intimeren Ort, um aus sich | |
| herauszugehen. Also verlegten wir die Szene in ein Auto. Manches ist dabei | |
| improvisiert, anderes ist Wort für Wort geschrieben. Aber es ist wichtig, | |
| dass sie diese Emotionen spüren und nicht nur performen. | |
| „Chiara“ ist ein realistisches Sozialporträt dieser Region, ein | |
| Familiendrama, eine Coming-of-Age-Geschichte und ein Thriller im | |
| Mafiamilieu – wie fügte sich das alles zusammen? | |
| Es ging immer um Chiaras Perspektive, sie versucht hinter das Geheimnis | |
| ihrer Familie und das Verschwinden ihres Vaters zu kommen. Die Kamera ist | |
| dabei dicht an ihr dran und verstärkt, was sie in jedem Moment erlebt und | |
| fühlt, wenn sie in diese ihr unbekannte Welt eintaucht. Der Film zeigt, | |
| statt zu erklären. Alles andere ergibt sich daraus. | |
| Auch wenn es kein Film „über“ die kalabrische Mafia ist, wie Sie sagen, | |
| thematisiert er doch den Einfluss der ’Ndrangheta. Wie riskant ist es in | |
| dieser Gegend? | |
| Ich erzähle es, wie ich es erlebe. In den über zehn Jahren, die ich dort | |
| lebe, wurde ich noch nie unmittelbar Zeuge einer Schießerei. Ich habe nie | |
| eine Razzia mit Hunderten Polizisten gesehen oder wie der Bürgermeister in | |
| Handschellen abgeführt wird. Das passiert, aber es ist nicht alltäglich. | |
| Mir ging es darum zu zeigen, wie die Leute in dieser Stadt damit leben, | |
| dass organisierte Kriminalität einen solchen Einfluss hat, ohne es | |
| spektakulärer aussehen zu lassen, als es ist. Am Ende ist es nicht so | |
| entscheidend, ob jemand für die Mafia arbeitet oder nicht. | |
| Sie stammen aus New York. Was hat Sie ausgerechnet dorthin verschlagen? | |
| Ich bin 2010 zum ersten Mal in diese Gegend gefahren, um über die Proteste | |
| von Saisonarbeitern in der Kleinstadt Rosarno zu recherchieren. Das war | |
| damals für die Medien ein Riesenthema, mich interessierten aber die | |
| Menschen hinter den Nachrichtenbildern. Also blieb ich. Und traf den | |
| [2][späteren Hauptdarsteller meines ersten Films, „Mediterranea“], wir | |
| gründeten eine WG, ich lebte mich ein, bald hatte ich meinen Hausarzt hier | |
| und ging wählen. Für mich ist Gioia Tauro kein Labor, in dem ich Filme | |
| mache, sondern mein Lebensmittelpunkt. | |
| 27 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Abeltshauser | |
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