# taz.de -- Hans-Christian Schmid über Reemtsma-Film: „Da ist protestantisch… | |
> Der Film „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ erzählt die | |
> Reemtsma-Entführung nach. Regisseur Hans-Christian Schmid über das | |
> Problem, echte Leben zu verfilmen. | |
Bild: Die Angehörigen: Johann (Claude Heinrich) und seine Mutter Ann Kathrin S… | |
taz: Herr Schmid, welche Erinnerungen haben Sie an 1996, als im Frühjahr | |
Jan Philipp Reemtsma entführt wurde? | |
Hans-Christian Schmid: Wir waren im April 96 auf der Kino-Tour mit „Nach | |
Fünf im Urwald“, in dieser Zeit tauchte ein Spiegel-Titel mit Jan Philipp | |
Reemtsma auf. Das war dann schon die Berichterstattung nach dem Ende der | |
Entführung, weil es ein Stillhalteabkommen mit den Medien gab. Ich habe das | |
wahrgenommen, aber nie gedacht, ich könnte das verfilmen. | |
Und in den 20 Jahren danach? | |
Auch nicht. Vor allem wäre ich nicht auf die Idee gekommen, über die | |
Entführung aus der Perspektive des Sohnes zu erzählen. Von den Stoffen, für | |
die ich mich interessiere, wäre so ein Entführungsfall gar nicht infrage | |
gekommen. Das ist dann tatsächlich ein Gespräch mit meinem Co-Autor Michael | |
Gutmann gewesen, der gesagt hat, es gibt ein Buch vom Sohn von Jan Philipp | |
Reemtsma, das finde ich total interessant (Anm. d. Red.: [1][Johann | |
Scheerer, „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ (2018)]). Lies doch mal. | |
Dieser Tag im März 2018 war der Anfang meiner Beschäftigung mit dieser | |
Geschichte. | |
Sie haben einmal gesagt, Sie bräuchten immer einen persönlichen Bezug zu | |
einer Geschichte. Was war das in diesem Fall? | |
Die Chance, etwas über eine Familienkonstellation zu erzählen. Aus eigener | |
Erfahrung weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn eine Familie von heute auf | |
morgen nicht mehr vollständig ist. Das ist aber schon ein fast zu direkter | |
Anknüpfungspunkt. Mittlerweile habe ich selber zwei Kinder und finde es | |
interessant, was von außen auf eine Familie eindringen kann, was eine | |
Familie stärkt oder zerstört oder wie man mit Ausnahmesituationen umgeht. | |
Damit sind Michael und ich angetreten, da konnten wir anknüpfen, obwohl wir | |
beide nicht aus so einem Milieu stammen und nie mit einer Entführung zu tun | |
hatten. | |
Es ist eine schmale Gratwanderung, wenn man die Geschichte von realen | |
Menschen verfilmt. | |
Das habe ich auch sehr deutlich empfunden, weil alle Beteiligten noch | |
leben. Wir haben mit allen gesprochen, nicht nur mit Johann, auch mit | |
seiner Mutter (Anm. d. Red.: Ann Kathrin Scheerer), dem Anwalt, den | |
Polizisten. Das war ein großer Gewinn, aber auch eine Verpflichtung, wir | |
hatten ja durch die Filmrechte nicht den Freibrief, ihnen Dialoge in den | |
Mund zu legen. Uns war bewusst, dass es kompliziert werden könnte, wenn | |
jemand nicht einverstanden ist. Das besonders Herausfordernde war, Johanns | |
autobiografischem Roman gerecht zu werden und zugleich sechs | |
unterschiedlichen Versionen der Wirklichkeit der beteiligten Personen. | |
Das klingt wie Familientherapie … | |
Das war es bestimmt auch. An Johanns Roman mussten wir uns gar nicht so | |
streng halten wie anfangs gedacht. Ihn hat die Haltung von außen | |
interessiert, es sollte unsere Interpretation sein. So ähnlich hat auch | |
seine Mutter argumentiert, da fühlten wir uns schon sehr frei. Sie | |
bestanden nur darauf, dass es psychologisch genau und nicht unterkomplex | |
wird. | |
Wie haben Sie das Vertrauen Johann Scheerers gewonnen, seine Geschichte zu | |
verfilmen? Seine Motivation, das Buch zu schreiben, war, die Deutungshoheit | |
über das Erlebte zurückzuerlangen. Die gibt er mit dem Film wieder ein | |
wenig ab. | |
Michael und ich haben uns immer wieder die Frage gestellt: Warum lässt | |
Johann sein Buch verfilmen? Es gab eine Reihe von Bewerbern, und er hat | |
fast ein Jahr gewartet mit der Zusage. In der Zeit hat die Familie, denke | |
ich, versucht, sich darüber klar zu werden, ob eine Verfilmung eine gute | |
Idee ist. Johann und seine Mutter konnten sich das vorstellen, sein Vater | |
nicht so sehr. Und das musste erst geklärt werden. Mit Jan Philipp Reemtsma | |
hatte ich Mailkontakt, wir sind uns aber nie begegnet, und ich kann | |
verstehen, warum er das alles hinterfragt hat und sich nach dem Buch jetzt | |
nicht auch noch einen Film wünscht, mit einer Deutung von außen, die er | |
vielleicht nicht maßgeblich findet. Aber letztlich hat er uns dann doch | |
viel Glück gewünscht. | |
Sie zeigen die angespannte Situation im Haus sehr präzise und oft wenig | |
schmeichelhaft. Gab es Bedenken, wie kritisch die Darstellung sein kann und | |
muss? | |
Wir wollten niemanden in die Pfanne hauen und ich glaube, das haben auch | |
alle gespürt. Gleichzeitig wussten auch alle, dass es keine | |
Heldengeschichte wird, weil alle Fehler gemacht haben, alles andere wäre | |
verlogen. Ann Kathrin Scheerer zumindest trifft die zwar späte, aber | |
richtige Entscheidung, die Polizei rauszuwerfen. In unserem Bemühen, allen | |
gerecht zu werden, haben die Beteiligten auch gemerkt, dass sie das | |
Ambivalente zulassen können. Christian Schneider, der Freund der Familie, | |
der das Haus verlässt, Anwalt Schwenn sowieso. | |
Und auch die beiden Betreuer sind streitbar. Jetzt, mit 25 Jahren Abstand, | |
haben sie uns Materialien zur Verfügung gestellt, Protokolle jedes | |
einzelnen Tages, aus denen hervorgeht, was alles schiefgelaufen ist. Sie | |
haben nicht versucht, es zu verbergen, sondern gesagt: Ja, das war falsch. | |
Die Polizei ist ein hierarchisches System, sie hatten Entscheidungen der | |
Einsatzleitung zu befolgen, die sie selber nicht gut fanden. Gerade was die | |
Polizeitaktik und deren Entscheidungen angeht, ist alles recherchiert und | |
inhaltlich nicht zu bemängeln. Das stellen wir auch so dar. | |
Hatten Sie über die beiden Betreuer hinaus Kontakt zu anderen | |
Polizeimitarbeitern? | |
Wir haben auch mit der Polizeipsychologin gesprochen. Der Einsatzleiter | |
hingegen hat lange Zeit gesagt, er brauche unser Drehbuch nicht zu lesen, | |
er kenne ja schon Johanns Roman. Und wir haben dann insistiert, weil unsere | |
Version doch etwas anders ist. Die finale Fassung unseres Drehbuchs hat er | |
dann nicht gut gefunden. Er gab zwar zu, dass es faktisch richtig ist, aber | |
als Person würde er sich selbst ganz anders sehen, er hielt die Figur im | |
Film für einen „Betonkopf“. Als wir ihm dann vorschlugen, den Namen zu | |
ändern, war er einverstanden. | |
Es gab damals mehrere Einsatzleiter, einer wollte gar nicht mit uns | |
sprechen. Sie wissen schon, dass sie damals eine unrühmliche Rolle hatten. | |
Das waren nicht nur Pleiten, Pech und Pannen, wie man in Johanns Buch den | |
Eindruck hat, wo sie als eine Tollpatschtruppe gezeichnet wird. Das waren | |
auch taktische Entscheidungen, die dazu führten, dass die Geldübergabe und | |
der Entführte gefährdet waren. Und dieses Versagen gesteht sich die Polizei | |
bis heute nicht ein. | |
Könnte der Film eine Debatte darüber ins Rollen bringen? | |
Habe ich mich auch gefragt, auch wenn für mich nicht die Polizeiarbeit im | |
Vordergrund steht. Ich fände es richtig, aber ich fürchte, die Ereignisse | |
liegen zu weit zurück. Wird noch einmal jemand zu recherchieren beginnen, | |
wie das damals abgelaufen ist? Wie wir auch im Film zeigen, verlangte der | |
echte Einsatzleiter damals, wenn er sich auf die Zusammenarbeit mit dem | |
Sicherheitsdienst einlässt, dass dann aber alle Erfolge der Polizei | |
zugesprochen werden. | |
Schon erstaunlich, wie jemand so sehr um seine Position und öffentliche | |
Wahrnehmung kämpft. Er galt damals als Held bei der Hamburger Polizei. Kurz | |
zuvor hatte er den Kaufhauserpresser Dagobert gestellt. Es hat ihn ziemlich | |
mitgenommen, hier so eine Schlappe zu erleben. Später hat er ein Buch über | |
seine Laufbahn bei der Polizei veröffentlicht, da ist der Fall Reemtsma | |
interessanterweise außen vor. | |
Auch die innerfamiliären Strukturen und Dynamiken sind bemerkenswert | |
unsentimental dargestellt, das Zusammenleben erscheint pragmatisch-kühl … | |
Eine gewisse hanseatische Distanziertheit wird schon in Johanns Vorlage | |
sichtbar, wenn er etwa seine Eltern nicht Mama und Papa nennt, sondern mit | |
deren Vornamen anspricht. Später wirkt es dann so kühl, weil Mutter und | |
Sohn sich in dieser Ausnahmesituation nicht gehen lassen wollten. Da ist so | |
eine protestantische Disziplin, sie wollten sich nicht zugestehen, wie | |
schlecht es ihnen geht, selbst die heulende Haushälterin wurde nach Hause | |
geschickt. Diese Stimmung wollten wir erhalten und Johann und Ann Kathrin | |
waren damit einverstanden. | |
Welche Reaktionen erwarten Sie von der breiten Öffentlichkeit? | |
Dass der Film ein emotionales Erlebnis ist, und es hinterher das Bedürfnis | |
gibt, darüber zu reden. Über den Interessenkonflikt etwa zwischen dem | |
Wunsch der Angehörigen, das entführte Opfer bedingungslos zu retten, und | |
der Staatsgewalt, die den oder die Täter fassen und mögliche Nachfolgetaten | |
verhindern will. Eine Debatte über die Polizeiarbeit in dem Fall würde mich | |
freuen, aber es war nie der Antrieb, den Film zu machen. | |
3 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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