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# taz.de -- Film „Was bleibt“: Der mit dem klinischen Blick
> Schlummernde Lügen, allmähliche Enthüllungen: Trotz solcher
> Standardsituationen ist „Was bleibt“ ein überraschendes Familiendrama.
Bild: Verloren in Westdeutschland: Lars Eidinger (li.) und Sebastian Zimmler in…
Familie. Fast jeder hat sie oder hat sie mal gehabt. Nicht jeder will
selbst eine. Das geforderte Assoziationswort zu ihr ist „Geborgenheit“. Die
erlebte Wirklichkeit aber sind oft bestenfalls gemischte Gefühle.
Hans-Christian Schmids Familiendrama „Was bleibt“ ist allein schon deshalb
sehenswert, weil der Film in stiller und souveräner Weise Gründe und
Hintergründe dieser Gemengelage illustriert, ohne dabei in die genreübliche
Demonstration des schlussendlichen „Wir lieben uns doch alle“ zu verfallen.
Die Ausgangslage ist in „Was bleibt“ denkbar simpel. Mama (Corinna
Harfouch), von allen nur Gitte genannt, hat zum Familientreffen gerufen.
Also sammelt Marko (Lars Eidinger) in Berlin seinen kleinen Sohn Zowie
(Egon Merten) bei der ehemaligen Lebensgefährtin auf und steigt in den Zug
nach Westdeutschland.
Letzteres soll hier weniger einen realen Ort als eine Atmosphäre
beschreiben, die der Film zeigt: Da ist die moderne Elternvilla mit viel
Naturstein und bodentiefen Fenstern zur Terrasse raus, da ist der
Alt-68er-Vater Günter (Ernst Stötzner), der als Verleger offenbar gut
verdient, die bereits erwähnte flotte Mutter Gitte und der jüngere Bruder
Jakob (Sebastian Zimmler), der sich gerade als Zahnarzt etablieren will.
Zusammen ergibt sich daraus ein sehr reales Bild jener saturierten, aber
liberal denkenden Bürgerlichkeit mit Jugendkulturaffinität, die unter dem
Emblem „Westdeutschland“ viel Ressentiment auf sich zog. Es ist auch dem
detailgenauen Szenenbild und der Ausstattung (Christian Martin Goldbeck und
Katja Schlömer) zu verdanken, dass man die vielzitierte Erbengeneration
hier gleichsam vor sich sieht. Ach ja, der vor dieser Etabliertheit nach
Berlin emigrierte Marko selbst ist übrigens Schriftsteller.
## Das Leben ohne Tabletten
Obwohl Schmid und sein Drehbuchautor Bernd Lange einigen Gebrauch von
Standardsituationen machen – peinliche Ankündigungen am Familientisch,
allmähliche Enthüllung von schlummernden Geheimnissen, schmerzhafte
Entlarvung wohlvertrauter Lügen –, folgt „Was bleibt“ nicht unbedingt den
eingefahrenen Spuren des Familiendramas. Vater Günters Erklärung, er wolle
seinen Verlagsanteil verkaufen und fortan das Leben genießen, wird schnell
von Mutter Gittes Nachricht übertrumpft, sie nehme die Psychopharmaka nicht
mehr, die man ihr seit 30 Jahren gegen Depression verschreibt.
Die Konflikte, die sich strudelartig daraus ergeben, werden nicht etwa
sorgsam entwickelt und dann gelöst, sie werden eher seziert, zur
Betrachtung bloßgelegt, wenn auch der Ausgang der Laborergebnisse im
Ungewissen bleibt. Man versteht, warum Hans-Christian Schmids
Regie-Handschrift oft als „klinisch“ beschrieben wird.
## Was früher gesagt wurde
Es gehört zu Schmids Erfolgsgeheimnis, dass es ihm gelingt, die kühle
Klarheit mit einer atmosphärischen Dichte zu verbinden, in der einzelne
Sätze Jahrzehnte einer Beziehung auf den Punkt bringen. „Ich könnte ja
mitkommen“, sagt an einer Stelle Gitte zu ihrem Mann, der von Reiseplänen
nach Kleinasien erzählt. Man achte darauf, was alles mitschwingt, wenn
Ernst Stötzner als Günter ihr sein „Jetzt stehe ich wieder als der da, der
nicht möchte, dass du mitkommst!“ entgegnet.
Der nicht zu unterdrückende Nachhall all dessen, was früher schon gesagt
und getan wurde in diesem Familienhaus, fügt jedem Gespräch so etwas wie
ein kakofones Hintergrundgeräusch bei. Schmids „klinischer“ Stil frustriert
aber auch. Wo man üblicherweise als Zuschauer in einem Familiendrama
mitfühlen und sympathisieren will, bleibt man in „Was bleibt“ wie außen
vor. Keine der Figuren nimmt wirklich für sich ein, nicht der stets etwas
schwammige Marko, nicht der angespannte kleine Bruder Jakob, nicht der
Gutmütigkeit heuchelnde Vater Günter und auch nicht die nach Jahren aus der
Betäubungsblase austretende Mutter Gitte.
Dass das ein weiterer bewusster Kunstgriff ist, erschließt sich dem
Zuschauer vielleicht erst im Nachhinein: Statt die Nähe zu seinen Figuren
zu suchen, verweist Schmid auf die Einsichten aus der Distanz. Auch die
Handlung seines Films setzt schließlich auf eine bewusste Lücke, um etwas
sichtbar zu machen.
„Was bleibt“. Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Lars Eidinger, Corin- na
Harfouch u. a. Deutschland 2012, 85 Min.
6 Sep 2012
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
## TAGS
Jan Philipp Reemtsma
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