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# taz.de -- Kolumne Lidokino: Gute Zeit für's Über-Ich
> Olivier Assayas erzählt mit „Après mai“ die Geschichte einer Jugend nach
> 1968. Beim Filmfest in Venedig präsentiert sich das junge Ensemble.
Bild: Spezialist für Horror- und Monsterfilme: Roger Corman.
„Après mai“ von Olivier Assayas ist ein Ensemblefilm, das merkt man sofort,
wenn man die Pressekonferenz zum Film besucht. Das Podium ist mit sieben
jungen Schauspielern besetzt, die eben noch auf der Leinwand der Sala Perla
zu sehen waren, unter ihnen Clement Metayer, dessen Figur davon träumt,
Filmemacher oder Maler zu werden.
Hugo Conzelmann, der im Film das Leben der Arbeiter kennen lernen möchte,
indem er in einer Druckerei arbeitet, und India Salvor Menuez – sie spielt
eine junge Amerikanerin, die magische Tänze studiert.
Assayas, 1955 geboren, Sohn des Filmemachers Jacques Rémy, sitzt in der
Mitte, und er redet, wie es seine Art ist, schnell, fast ohne Atem zu
holen, und trotzdem druckreif. „Die Figuren sind nicht diejenigen, die die
Ereignisse von 1968 angetrieben haben, sie stehen eher am Rande“, sagt er.
Es seien junge Menschen „aus der Mittelschicht, aufgewachsen in einem
Vorort von Paris, so wie ich auch“.
## Bei Tag und bei Nacht
Assayas’ Wettbewerbsbeitrag „Après mai“ setzt im Frühsommer 1971 ein, d…
Figuren besuchen noch das Gymnasium, nachts besprühen sie die Wände des
Schulgebäudes mit politischen Parolen und dem Anarchismus-Symbol, tags
liefern sie sich Straßenkämpfe mit Spezialeinheiten der Polizei,
zwischendurch sieht man Gilles (Clement Metayer), die zentrale Figur im
Ensemble und eine Art Alter Ego des Regisseurs, wie sie in einem Atelier
malt.
Die Kamera von Eric Gautier gleitet geschmeidig durch das Geschehen, sie
ist so agil, aber auch so unberechenbar wie die Figuren. In vielem ist
„Après mai“ ein Echo auf Assayas’ „L’eau froide“ aus dem Jahr 1994…
darin ging es um den rite de passage von der Jugend zum Erwachsenenalter.
Der Zeit entsprechend fällt der Übergang radikal aus: Die Figuren brechen
eine Menge Gesetze, unter anderem verletzen sie einen Wachmann schwer, sie
reisen nach Afghanistan, experimentieren mit Liebes- und Wohnformen, nehmen
Drogen, feiern ausschweifende Partys und führen politische Diskussionen, in
denen die Konfliktlinien innerhalb der radikalen Linken etwas zu deutlich
ausbuchstabiert werden. Dass ihnen ernsthaft etwas zustoßen könnte, glaubt
man in keinem Augenblick. Denn die Feindseligkeit, mit der sie auf alles
Bürgerliche reagieren, steht in seltsamem Kontrast zu der Geborgenheit, die
ihnen ihre Herkunft gewährt.
## Zufälliges Documenta-Zitat
Flankiert wird dies von Abstechern in die Welt der Bildenden Kunst und des
Kinos, die éducation sentimentale dieser jungen Menschen geht mit der
ästhetischen Bildung Hand in Hand. In einer Szene etwa fällt Gilles ein
vernichtendes Urteil über einen Film, der für das revolutionäre Kino
Lateinamerikas ein Schlüsselwerk ist: Jorge Sanjinés „El coraje del pueblo�…
(„Der Mut des Volkes“, 1971), die Schlussbilder, der Marsch der Indígenas
durch karges Bergland, sind kurz zu sehen.
Wenig später macht Gilles dann selbst etwas, was er verachtet: er arbeitet
als Laufbursche bei einem B-Movie in den Londoner Pinewood-Studios, in der
ein Drache, diverse Nazis und ein Atombusen-Starlet aufeinanderstoßen. Eine
andere Figur erzählt, wie sie bei der Kabul-Reise den italienischen
Künstler Alighiero Boetti kennen gelernt hat, Reproduktionen von dessen
Wandteppich-Weltkarten tauchen in einer Szene auf, was ein interessanter
Zufall ist: Boettis Werk und das einst von ihm in Kabul geführte Hotel
spielen ja im Augenblick auch bei der Documenta 13 eine Rolle.
Wo im Film die Freude sei, möchte eine Journalistin wissen. Assayas
antwortet: „Aber da sind doch die Liebe, die Natur, die Zärtlichkeit.“ Und
er fährt fort: „In meiner Erinnerung war es eine sehr ernste Zeit.“ Alle
seien von Politik besessen gewesen, und alle hätten sich unentwegt dazu
gezwungen, daran zu arbeiten, dass die Revolution möglich und die Welt
besser würde. Das Über-Ich, sagt Assayas, hatte damals eine gute Zeit.
4 Sep 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Film
Schwerpunkt 1968
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