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# taz.de -- Regisseur über 68er-Film: „Revolution sollte noch kommen“
> Filmemacher Olivier Assayas über seinen Film „Die Wilde Zeit“,
> autobiografische Anekdoten und die Träume der 68er-Generation in
> Frankreich.
Bild: Straßenschlacht im Film „Die Wilde Zeit“ von Olivier Assayas: „Fü…
sonntaz: Herr Assayas, am Anfang Ihres neuen Films, „Die wilde Zeit“, über
die politisierten 70er Jahre in Frankreich verkauft der Protagonist Gilles
eine linksradikale Zeitung namens Tout vor dem Schultor. Sie haben das als
Schüler auch getan. Was passiert, wenn eigene Erlebnisse Teil einer
Filmfiktion werden?
Olivier Assayas: Es geht in diesem Film ja um einen Moment in der
Geschichte, der recht weit zurückliegt und schon oft auf fehlerhafte Weise
rekonstruiert, lächerlich gemacht oder mit Fantasien überfrachtet wurde.
Mir ging es darum, dieser Zeit Sinn abzugewinnen, sie auf ehrliche Weise
darzustellen, indem ich ihre Schönheit und ihre Konflikte behandele. Und um
mich dieser Zeit anzunähern, habe ich mich zurückerinnert und Dinge
benutzt, die ich am eigenen Leib erlebt habe, denn das ist solider Grund.
Darauf kann ich aufbauen.
Verteilen Sie Ihre Erlebnisse auf alle Figuren?
Die autobiografischen Anekdoten heften sich eher an Gilles, er ist die
Figur, die mir am nächsten ist. Aber beim Schreiben merkte ich, dass
Gilles’ Geschichte keinen Sinn ergibt, solange sie sich nicht mit den
Geschichten der übrigen Figuren verbindet. Wir alle sind ja von dem, was
wir tun, genauso definiert wie von dem, was wir nicht tun, von unseren
Fantasien darüber, was wir hätten tun können, und das überschneidet sich
mit den Träumen und Fantasien unserer Generation. Es geht ums
Erwachsenwerden, ums Jungsein in chaotischer Zeit, und das ist eine
universelle Erfahrung, die von Jugendlichen heute geteilt werden kann.
Um den Mai 1968 mitzuerleben, waren Sie zu jung. Hatten Sie das Gefühl,
zwischen den Zeiten zu stecken?
Ja und nein. Im Rückblick erscheint es so, dass, wenn wir von radikaler
Politik in Frankreich sprechen, der Mai 1968 den Gipfelpunkt bildete. Aber
das ist eine Perspektive, die sich von der, die wir Anfang der 70er Jahre
hatten, radikal unterscheidet. Für uns war 1968 zwar eine Revolution, aber
eine gescheiterte. Um ein Haar hätte man die Regierung de Gaulles gestürzt,
aber eben nur um ein Haar. Es kam zu einer großen Demonstration zugunsten
de Gaulles.
Das war am 30. Mai 1968. Die Wahlen im Juni bescherten den Gaullisten einen
deutlichen Sieg.
Das war das Ende der Bewegung. Der Sommer kam, die Leute zerstreuten sich,
und im September gingen alle wieder zur Uni. Was jetzt? Damals war das ja
alles andere als klar. Worum es uns dann Anfang der Siebziger ging, war,
die Bewegung so zu gestalten, dass sie die revolutionäre Energie
kanalisieren konnte. Aus dem Mai 1968 erwuchs uns die Zuversicht, dass wir
in revolutionären Zeiten lebten. Zu den Älteren schauten wir nicht auf,
obwohl sie die Anführer, die Theoretiker, die Strategen waren und wir so
etwas wie ihre jüngeren Brüder. Wir waren nicht bescheiden, wir sahen uns
selbst als Teil eines historischen Augenblicks und einer historischen
Bewegung. Die Revolution war zwar vorerst gescheitert, aber sie würde schon
noch kommen.
Wie gestaltete sich denn das Verhältnis zwischen den jüngeren und den
älteren Geschwistern?
Es gab einen Antagonismus zwischen der politischen Linken und der
Gegenkultur. Uns ging es vor allem um die Gegenkultur, doch Dinge wie
individuelle Freiheit, Drogen, sexuelle Befreiung und die Frauenbewegung
standen nicht auf der Agenda der traditionelleren Linken. All das galt als
Abschweifung, als kleinbürgerliche Versuchungen, die der Staat ersonnen
hatte, um vom revolutionären Ziel abzulenken. Meine Generation sah dagegen
nicht ein, weshalb man zwischen radikaler Politik einerseits und Pop- oder
Underground-Musik und Joints andererseits wählen sollte.
Im Film verhandeln Sie die Konflikte auf deutliche Weise – etwa wenn die
Jugendlichen in einer Werkstatt mit Druckerpresse ein Flugblatt herstellen,
das dem Inhaber obszön erscheint. Hatten Sie keine Angst, zu deutlich zu
werden? Die Konfliktlinien zu deutlich aufzuzeigen?
Nein, denn diese Konflikte wurden in Filmen noch nie dargestellt, also
wollte ich mich nicht zurückhalten, ich wollte sie unterstreichen. Die
radikale Energie von damals war ja großartig, aber es lag auch etwas
Wahnsinniges darin, wie die radikale Politik sich mit dem Totalitarismus
verbrüderte, das war furchterregend.
Das zeigen Sie, wenn Gilles ein kritisches Buch über die chinesische
Kulturrevolution liest, „The Chairman’s New Clothes“ von Simon Leys, und
ihm einer der älteren Genossen erklärt, der Autor des Buchs sei CIA-Agent.
Ja, und genau so war es! Das ist heute vergessen. Die militanten Maoisten
hassten das Buch. Simon Leys ging nicht gerade zart mit den naiven
Intellektuellen aus dem Westen um, die nach China reisten. Und er kam aus
ultralinken Kreisen, er fühlte sich der situationistischen Internationale
und Guy Debord verbunden, aber die Linken kamen nicht mit ihm klar. Zu der
Zeit konnte man mit Linken aber auch nicht über Solschenizyn reden.
In der Rückschau ist das unglaublich. Jeder konnte doch wissen, was die
Kulturrevolution bedeutete, und trotzdem hatte sie viele Freunde, in
Deutschland ja auch.
Wie so oft: Die Fakten liegen offen zutage, aber das kollektive Unbewusste
verarbeitet sie einfach nicht. Und es waren ja nicht nur naive Linke, die
rosigen Fantasien darüber anhingen, was in China geschah. Es gab auch
rechte Politiker, etwa den bekannten und allseits geschätzten Sinologen
Alain Peyrefitte, der in den 70er Jahren Kulturminister in der Regierung
von Georges Pompidou war. Er schrieb das Buch „Wenn sich China erhebt,
erzittert die Welt“, das die maoistische Propaganda idealisierte und ein
Bestseller wurde. Wer als Linker den Maoismus kritisierte, war so
marginalisiert, wie man nur irgend marginalisiert sein kann.
In „Die wilde Zeit“ durchlaufen die Figuren auch so etwas wie eine
education esthétique, etwa bei der Reise nach Kabul, wo sie die Kunst von
Alighiero Boetti kennenlernen, oder wenn sie in Pompeji Fresken anschauen
und zeichnen. Warum spielt die Auseinandersetzung mit Kunst eine so große
Rolle?
Wenn man davon träumt, ein Künstler zu werden, dann gibt es so etwas wie
einen Kompass, der einen zu den Dingen führt, die einem etwas bedeuten. Und
indem man sich mit Künstlern aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart
beschäftigt, mit dem Weg, den sie gegangen sind, lernt man sich selbst
kennen. Aus irgendeinem Grund scheint sich das Kino im Augenblick wenig
dafür zu interessieren, aber für mich war es enorm wichtig, als ich jung
war. Ich wollte Maler werden, und das hieß, dass ich in einen Dialog mit
den Bildsprachen der Vergangenheit und der Gegenwart eintrat. Ich erinnere
mich an meine Begeisterung für Pompeji, für italienische Kunst, für das
Goldene Zeitalter holländischer Malerei oder für Ostasien. Oder daran, wie
ich die Zeichnungen von Edward Gory kopierte, was Gilles in einer Szene des
Films auch tut. Das ist auch eine Form der Hommage.
Ihre Protagonisten nehmen Drogen, sie üben Gewalt aus, sie begehen
Straftaten. Trotzdem hat man – mit einer Ausnahme – nie das Gefühl, dass
ihnen etwas Ernsthaftes zustoßen könnte. Weshalb ist das so?
Sie sind noch sehr jung, 17 Jahre. Alles ist noch vorläufig. Wenn etwas
Schlimmes geschieht, dann in der Zukunft, im nächsten Akt sozusagen. Aber
Sie haben recht: Es war eine gewalttätige Zeit, viele Leute haben zu viele
Drogen genommen und sich in verrückten Ideen verloren.
Ihre Figuren wirken dennoch beschützt.
Was die Figuren im Film schützt, ist, dass sie, jeweils auf eigene Weise,
im Begriff sind, Künstler zu werden. Leslie möchte tanzen, Alain malen,
Gilles hat Gelegenheitsjobs in der Filmindustrie und wird später
Filmemacher werden. Das bewahrt sie vor dem Desaster, in das die linke
Politik der 70er Jahre mündet. Diese Generation hat ja einen hohen Preis
bezahlt. Sie hat mit Utopien experimentiert, und sie hatte nichts, woran
sie sich anlehnen konnte: Man wollte keine Familie, keinen Beruf, kein
Studium. Man wollte Teil der Revolution sein, alles andere war falsch und
kleinbürgerlich, und viele haben dabei jeden Halt verloren. Meine
Perspektive auf die 70er Jahre fällt aber etwas anders aus. Mich
interessierte, was sie an Gutem hervorgebracht haben. Auch wenn mein Film
mit vielen offenen Fragen endet, wollte ich doch einen Begriff von der
Schönheit der Utopien jener Tage vermitteln.
26 May 2013
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt 1968
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