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# taz.de -- Lidokino: Jesus über mir, Jesus unter mir
> Kino als Religion: Terrence Malicks und Paul Thomas Andersons Beiträge in
> Venedig thematisieren religiöse Verstrahltheit - mal ignorant, mal kühn.
Bild: Philip Seymour Hoffman und Joacquin Phoenix in „The Master“.
Am Sonntagmorgen um neun ist Messe in der hölzernen Kathedrale der Sala
Darsena. Der Priester heißt Terrence Malick, die Predigt steht unter dem
Titel „To the Wonder“ und dauert fast zwei Stunden. An ihrem Ende klatschen
die Frommen frenetisch, während die Ungläubigen empört buhen.
Wer je gedacht hat, das Kino sei manchmal so etwas wie eine Ersatzreligion,
ein Ort, an dem man sich der Sehnsucht nach Transzendenz hingeben kann,
obwohl man aus der Kirche ausgetreten ist, der wird von Malick eines
Besseren belehrt: In „To the Wonder“ passt nicht mal mehr eine Oblate
zwischen Kino und Religion.
Malicks Wettbewerbsbeitrag ist einer der am meisten erwarteten Filme der
Biennale, nicht zuletzt, weil das Gesamtwerk des 1943 in Illinois geborenen
Regisseurs im Vergleich zu dem Gewicht, das man ihm beimisst, recht schmal
ausfällt.
Seit dem Debüt „Badlands“ (1973) hat er fünf weitere Filme gedreht. Im
Mittelpunkt des jüngsten steht ein Paar, Marina (Olga Kurylenko) und Neil
(Ben Affleck), das sich in Frankreich begegnet, sich – unter anderem beim
Spaziergang durch den Klostergarten von Le-Mont-Saint-Michel – unsterblich
verliebt und bald nach Oklahoma zieht. Doch im Alltag, was Wunder,
verbraucht sich die Liebe rasch, ohne dass man genau erführe, weshalb. Der
Schmollmund von Olga Kurylenko muss als Erklärung reichen.
## Eine kühne, freie Filmerzählung
Marina hat eine zehn Jahre alte Tochter. Anfangs ist die
Patchwork-Situation heiter und verzaubert wie alles, was Emmanuel Lubezkis
Kamera einfängt. Doch nach einem ersten Streit der Erwachsenen hält Tatiana
Neil vor: „Du bist nicht mein Vater.“ Es dauert nicht lange, und das Kind
verschwindet aus dem Film. Aus dem Off ertönt die Stimme der Mutter:
„Tatiana sehe ich nicht mehr, sie lebt wieder bei ihrem Vater.“
Die Episode ist kennzeichnend, denn dort, wo tatsächlich zwiespältige
Gefühle, Furcht und Sorge zu erkunden wären, wo es wirklich ein Drama gäbe,
guckt der Film lieber erst gar nicht hin. Hinzu kommt ein Priester in
Glaubensot (Javier Bardem), der durch Armenquartiere und durch sein eigenes
Haus irrlichtert. Seine Stimme raunt wie die Marinas im Off, seine Zweifel
an Jesus bilden ein Grundrauschen, das gegen Ende in ein Loblied kippt:
„Christus in mir, Christus über mir, Christus unter mir, Christus rechts
von mir, Christus links von mir.“
Umso besser, dass Paul Thomas Andersons analog und im 65-mm-Format
gedrehter Wettbewerbsbeitrag „The Master“ ein Gegenmittel bereitstellt.
Anderson hält von Realismus-Konventionen ähnlich wenig wie Malick. Doch
während sich „To the Wonder“ in christlicher Reverie ergeht, hat „The
Master“ die Bildmacht und die Erfindungsgabe, die es für eine kühne, freie
Filmerzählung braucht. Auch hier geht es um Formen religiöser
Verstrahltheit, namentlich um eine Sekte Anfang der 50er Jahre, in der, wer
will, Scientology erkennen kann.
Angeführt wird sie von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman), der
Hypnose, Zeitreise, Gesprächstherapie und Manipulation zu einer eigenen
Mixtur verrührt und dies dann als Heilmethode gegen allerlei Gebrechen
anpreist. Im Gegenzug verlangt er unbedingte Gefolgschaft. Fast wie ein
Hund läuft ihm eines Tages Freddie Quell (Joacquin Phoenix) zu, ein
Drifter, der im Zweiten Weltkrieg im Pazifik gekämpft hat.
Die ersten Szenen des Films fangen die Tage rund um den Abzug der Truppen
ein. Großartig zu sehen, wie die Matrosen an einem Strand balgen, wie sie
Kokosnüsse knacken und aus Sand eine nackte Frau aufschichten – fast so,
als wären sie Abgesandte aus Claire Denis’ wunderbarem Film „Beau Travail�…
Und die Frau aus Sand spendet auch dann noch Trost, wenn es Lancaster Dodds
Psychoreligion nicht mehr tut.
2 Sep 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
Cristina Nord
## TAGS
Kolumne Lidokino
Paare
Ryan Gosling
Terrence Malick
Kino
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