# taz.de -- Kolumne Lidokino: Wo die Mädchen wohnen | |
> Kurz vor Schluss zeigt die Filmbiennale in Venedig noch einmal, wie | |
> aufregend genaues Hinsehen sein kann: "San zi mei" von Wang Bing. | |
Bild: Regisseur Wang Bing in Venedig. | |
Eine der schönsten Eigenschaften des Kinos ist, dass es Einblicke in | |
unbekannte Welten ermöglicht. Ein Film kann mit der Binnenlogik eines | |
Umfelds vertraut machen, das einem verschlossen ist, das man möglicherweise | |
sogar ablehnt, und er kann, durchaus im ethnografischen Sinne, eine Gegend | |
erkunden, die man nicht kennt und deren Lebensverhältnisse einem fremd | |
sind. | |
Die Filmbiennale, die am Samstag abend mit der Verleihung des Goldenen | |
Löwen zuende geht, hat in diesem Jahr viele Beiträge versammelt, die solche | |
unvertrauten Welten zu erschließen versuchten. Manchmal führte der Versuch | |
nicht weit, zum Beispiel bei Terrence Malicks christlich-konservativer | |
Reverie „To the Wonder“ oder bei dem Spielfilmdebüt „Lemale Et Ha’Chal… | |
(„Fill the Void“) von Rama Burshtein. Gerne hätte man sich auf diese | |
Geschichte einer jungen, chassidischen Frau im Tel Aviv der Gegenwart | |
eingelassen, die, damit die Familie nicht auseinandergerissen wird, den | |
Mann ihrer verstorbenen Schwester heiraten soll (und dies irgendwann auch | |
will). | |
Mit feministischen Vorstellungen oder mit einem romantischen Liebesbegriff | |
kommt man dabei verständlicherweise nicht weit, gerade deshalb wäre es | |
schön gewesen, hätte der Film einem die fremde Logik nachvollziehbar machen | |
können. Doch Burshtein setzt so exzessiv auf Weichzeichner und von Halos | |
umstrahlte Weißflächen, dass man ihren ästhetischen Entscheidungen nicht | |
folgen mag, geschweige denn ihrer Weltsicht. | |
Umso schöner, wenn gegen Ende des Festivals ein Film läuft, dem es von der | |
ersten Einstellung an glückt, seinem Publikum eine fremde Welt | |
näherzubringen. Die Rede ist von Wang Bings zweieinhalbstündigem | |
Dokumentarfilm „San zi mei“ („Three Sisters“), der im Orizzonti-Programm | |
präsentiert wird. Ähnlich wie der Schriftsteller Liao Yiwu ist Wang Bing | |
ein Chronist jener Seiten Chinas, die von Fortschrittstaumel und | |
Wachstumsraten nichts spüren. | |
2003 hat er ohne Genehmigung den bahnbrechenden, knapp zehnstündigen | |
Dokumentarfilm „Tie Xi Qu: West of the Tracks“ über den Niedergang der | |
Stahlindustrie in Nordwestchina gedreht, nun hat er sich in den | |
Yunnan-Bergen im Süden des Landes umgesehen, in einer Gegend, wo China, | |
obwohl aufstrebende Wirtschaftsmacht, rückständig und arm ist. | |
Im Mittelpunkt des Films stehen drei Mädchen, Yingying, Zhenzhen und | |
Fenfen. In der ersten, langen, an ein Chiaroscuro-Gemälde erinnernden | |
Sequenz sieht man ihnen zu, wie sie in einer dunklen Behausung, beleuchtet | |
nur vom Schein der Feuerstelle, spielen und streiten, später sieht man, wie | |
sie kaputte Gummistiefel und faulige Strohbetten mit kindlichem Staunen in | |
Augenschein nehmen. Ihre Familiensituation ist prekär, die Mutter ist | |
verschwunden, ohne dass man weiß, wohin, der Vater ist Wanderarbeiter und | |
nur selten da, der Großvater und die Tante kümmern sich ums Nötigste. | |
Neben dem Wohnhaus liegen die Ställe von Schweinen, Schafen, Ziegen und | |
Hühnern, der Hof ist voller Schlamm, einmal sieht man ein paar Gänse – sie | |
gehören zu den seltenen weißen Flächen im ganzen Film. Die Mädchen, obwohl | |
erst zehn, sechs und vier Jahre alt, treiben die Schweine auf die Wiese, | |
hüten die Schafe, sammeln Maultierdung, waschen ihre Kleider selbst, | |
bereiten Essen zu, die älteste kümmert sich um die Jüngeren, so gut sie | |
kann, immer wieder sieht man, wie sie ihre kleinen Schwestern laust. | |
„San zi mei“ beobachtet die drei über mehrere Monate hinweg. Dabei geht es | |
Wang Bing nicht nur darum, den Schmutz und die Verwahrlosung einzufangen, | |
er filmt auch die Momente der Ausgelassenheit und des Spiels. Noch unter | |
den widrigsten Umständen bewahren sich Yingying, Zhenzhen und Fenfen die | |
Gabe, Kinder zu sein. | |
8 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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