# taz.de -- Kolumne Lidokino: Heiliger Bimbam, der heilige Ernst ist da | |
> Nun sag, wie hältst dus mit der Religion? Die Frage war ein Leitmotiv der | |
> 69. Filmfestspiele von Venedig. Die Denkräume aber blieben klein. | |
Bild: Ihm wächst eine Goldene Palme aus dem sadistischen Kopf: Wettbewerbssieg… | |
Wenn die diesjährige Mostra internazionale d’arte cinematografica ein | |
akustisches Leitmotiv hatte, dann war es ein Gebet: „Maria voll der Gnade“. | |
In vielen Filmen war es zu vernehmen – am deutlichsten in Ulrich Seidls am | |
Samstagabend mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichneten | |
Wettbewerbsbeitrag „Paradies: Liebe“. | |
Die Heldin, eine Frau Mitte 50, ist strenggläubige Katholikin. Sie nutzt | |
ihren Sommerurlaub, um in den ärmeren Gegenden Wiens diejenigen zu | |
bekehren, die vom rechten Pfad des Glaubens abgekommen sind. In einer | |
langen Sequenz rutscht sie auf Knien durch ihre Wohnung, um die Hüfte trägt | |
sie dabei einen Bußgürtel, und unablässig murmelt sie: „Gegrüßet seist d… | |
Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den | |
Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.“ | |
Nun sag, wie hältst du’s mit der Religion: Das war so etwas wie eine | |
Leitfrage dieser 69. Mostra, die nach der achtjährigen Ägide Marco Müllers | |
mit Alberto Barbera einen neuen künstlerischen Leiter hat. Zahlreiche Filme | |
versuchten, sich in ein Verhältnis zur Religion zu setzen, mal taten sie | |
dies affirmativ, mal skeptisch, mal – wie bei Terrence Malicks „To the | |
Wonder“ als Ode an das heilige Sakrament der Ehe, mal – wie bei Rama | |
Burshteins „Lemale Et Ha’Chalal“ („Fill the Void“) – als Lob der F�… | |
chassidische Tradition, dann wieder, wie bei Ulrich Seidl und Marco | |
Bellocchio, auf eine Weise, die fromme Katholiken als blasphemisch | |
empfinden. | |
Sowohl „Paradies: Glaube“ als auch „Bella Addormentata“ („Schöne | |
Schlafende“) lösten entsprechende Reaktionen aus, obwohl bei nüchterner | |
Betrachtung weder der eine noch der andere Film einen Angriff wider den | |
katholischen Glauben darstellt. | |
## Anzeige wegen Gotteslästerung | |
Strenggläubige demonstrierten trotzdem auf dem Lungomare vor dem | |
Festivalgelände gegen Bellocchios Film, weil sie darin ein Plädoyer für | |
Sterbehilfe erkennen wollten, Seidl wiederum wurde von einer konservativen | |
katholischen Organisation wegen Gotteslästerung angezeigt. Anlass dafür ist | |
eine Szene in „Paradies: Glaube“, in der die Heldin mit dem Kruzifix etwas | |
anstellt, was man als Masturbation interpretieren kann. | |
Der Eröffnungsfilm, Mira Nairs zwischen New York und Lahore pendelnder „The | |
Reluctant Fundamentalist“, erkundete auf plakative Art, warum Menschen | |
unter bestimmten Umständen keine andere Wahl haben, als in die Falle des | |
Fundamentalismus zu tappen. Er gab der Mostra damit ein Thema vor, das auf | |
Dauer ermüdete, weil sich das Festival, statt einen Freiraum zu behaupten, | |
zum Abbild dessen machte, was als Gespenst die Gegenwart heimsucht: Der | |
Raum jenseits von Religion, Religionskritik, von Fundamentalismen | |
religiöser wie säkularer Prägung wird klein und eng. | |
Reflexe und Intoleranz machen sich breit, Positionen prallen unversöhnlich | |
aufeinander. Wie redet man mit Leuten, die Filme nicht gucken, aber | |
trotzdem dagegen protestieren? Wie wiederum können diejenigen, die | |
Aufklärung und Liberalismus als alleinseligmachend empfinden, erkennen, | |
dass nicht jedes religiöse Gefühl zu verdammen ist? | |
## Gewalt mit Radikalität verwechselt | |
Über weite Strecken herrschte heiliger Ernst am Lido – jedenfalls bis zum | |
Mittwochabend. Da feierte Harmony Korines anarchischer Teenie-Trash „Spring | |
Breakers“ Premiere in der Sala Grande. Endlich ein Film, der sich jeglicher | |
Sinn- und Bedeutungsproduktion radikal verweigerte, um sich hemmungslos dem | |
Girls-with-Guns-Genre hinzugeben. | |
So willkommen diese Abwechslung war, so wenig Grund zur Freude bietet die | |
Entscheidung der Jury, den Goldenen Löwen an „Pietà“, den 18. Film des | |
koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk, zu verleihen. „Pietà“ – der Titel pa… | |
selbstredend zum religiösen Leitmotiv – handelt von einem Fiesling, der | |
Schuldnern brutal zusetzt, wenn sie säumig werden. Eines Tages taucht eine | |
ältere Frau auf, die behauptet, seine Mutter zu sein. | |
Wie man es von Kim Ki-duk erwartet, sind die Gewaltszenen exzessiv und in | |
ihrem sadistischen Überschuss auch willkürlich. Sie täuschen in ihrer | |
Blutrünstigkeit darüber hinweg, dass Kim Ki-duk sonst nicht viel zu | |
erzählen hat. Schade also, dass die von dem US-amerikanischen Regisseur | |
Michael Mann präsidierte Jury das Abbilden von Quälerei mit ästhetischer | |
Radikalität verwechselte. Zumal der diesjährige Wettbewerb mit Paul Thomas | |
Andersons „The Master“ (der den Silbernen Löwen und Darstellerpreise | |
erhielt), Brillante Mendozas „Sinapupunan“ („Thy Womb“) oder Olivier | |
Assayas’ „Après mai“ (Preis für das beste Drehbuch) würdigere Kandidat… | |
gehabt hätte. | |
Weder dieser unglückliche Goldene Löwe noch die Ernsthaftigkeit vieler | |
Filme änderte etwas daran, dass sich die diesjährige Mostra, | |
allgegenwärtigen Abgesängen zum Trotz, sehen lassen konnte. Alberto Barbera | |
hat das Programm verschlankt und den Filmmarkt ausgebaut, er hat | |
veranlasst, dass die in die Jahre gekommenen Gebäude durch geringfügige | |
Veränderungen der Herausforderung eines internationalen Filmfestivals | |
besser gewachsen sind; die Baugrube, die seit Jahr und Tag reglos vor dem | |
Casino klaffte, ist nur noch halb so groß. | |
Vor allem aber hatte das Filmprogramm einiges zu bieten, auch wenn nicht | |
jeder der Filme, die mit Spannung erwartet wurden, hielt, was er versprach. | |
Besonders Terrence Malicks „To the Wonder“ enttäuschte, und über Brian De | |
Palmas unansehnliche Zickenterror-Fantasie „Passion“, die in Berlin spielt | |
und mit Unterstützung des Medienboards Berlin-Brandenburg zustandekam, | |
verliert man am besten kein Wort. Zum Ausgleich gab es viele sehenswerte | |
Filme in allen Sektionen: etwa Wang Bings herausragenden Dokumentarfilm | |
über drei Kinder im verarmten, ländlichen Süden Chinas, „San zi mei“ | |
(„Three Sisters“), das Filmdebüt „Leones“ („Löwen“) der argentini… | |
Regisseurin Jazmin López oder die sanfte Tragikomödie „Cherchez Horrtense“ | |
von Pascal Bonitzer. | |
## Tolle Wiederentdeckungen | |
Die Retrospektive galt zu Zeiten Marco Müllers eher verpönten Genres – | |
B-Movies aus Italien oder Japan, sozialistischen Musicals, Propagandafilmen | |
aus China. In diesem Jahr orientierte sie sich am Vorbild der „Cannes | |
Classics“, wo vorgestellt wird, was gerade aufwändig restauriert wurde. | |
Dabei waren tolle Filme wiederzuentdecken, zugleich wurde man Zeuge, wie | |
extrem unterschiedliche Restaurierungsschulen aufeinanderprallten. | |
Als „Heaven’s Gate“ von Michael Cimino gezeigt wurde, sagte der an der | |
Restaurierung beteiligte Regisseur, beim digitalen Nachbearbeiten habe er | |
endlich die Farben zum Einsatz bringen können, die ihm beim Dreh mit | |
analogem Material nicht zur Verfügung standen. Ein Abgesandter der | |
Filmoteca Española, der den Film „Campanadas a medianoche“ („Falstaff“… | |
Orson Welles im Gepäck hatte, betonte dagegen, dass man sich so skrupulös, | |
wie es nur irgend ging, an das gehalten habe, was Welles 1965 drehte. Das | |
heißt auch, dass man die Technik von damals beim Restaurieren auf keinen | |
Fall mit den Mitteln von heute aufpeppt. | |
Einer der tollsten Filme dieser „Venice Classics“ war „Himala“ („Wund… | |
von Ishmael Bernal, gedreht vor 30 Jahren. Der Heldin Elsa erscheint nach | |
einer Sonnenfinsternis die Jungfrau Maria in einem abgestorbenen Baum, | |
fortan hat sie heilerische Gaben. Das verarmte Dorf, in dem sie wohnt, | |
erlebt plötzlich einen ungeahnten Besucheransturm. Die Geschäftstüchtigen | |
wissen dies zu nutzen. | |
In „Himala“ kann man das Gebet „Maria voll der Gnade“ auf Tagalog höre… | |
mit wilden melodramatischen Wendungen und spektakulären Massenszenen ist | |
der Film ein wunderbares Beispiel für populäres, kluges Kino aus einem Land | |
der Dritten Welt. Auf die Marienerscheinung wirft „Himala“ einen nüchternen | |
Blick. Wo die Lebensverhältnisse wenig Hoffnung lassen, bietet religiöse | |
Verstrahltheit eine letzte Zuflucht. Aber Vorsicht: Zuverlässig ist sie | |
nicht. | |
9 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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