Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über die Antimafia: ’Ndrangheta als Norm
> Ein neues Buch schildert die Geschichte des zivilgesellschaftlichen
> Widerstands gegen die organisierte Kriminalität in Kalabrien.
Bild: Kundgebung am 21. März 2017, dem Gedenktag für die unschuldigen Opfer…
In der populären Krimiserie „Allein gegen die Mafia“ wird kollektiver
Widerstand gegen die organisierte Kriminalität schon im deutschen Titel
(auf Italienisch: „La Piovra“, die Krake) ausgeschlossen. Dabei sind die
Protagonisten der Serie Polizisten – und die sind ja nun nie allein,
sondern Teil eines mächtigen Apparats mit Justiz, Geheimdiensten und
Gefängnis in der Hinterhand.
Wenn Polizisten allein gegen die Mafia stehen, spielen dann Teile des
Staatsapparats ein doppeltes Spiel? Wird der doch landläufig vorausgesetzte
Gegensatz von Mafia als bewaffneter Terrorbande und Staat als Verteidiger
der Interessen der Gemeinschaft der Sache überhaupt gerecht? Und wo steht
in dieser Auseinandersetzung die Zivilgesellschaft? Solchen Fragen geht der
aus Kalabrien stammende Journalist und Aktivist Danilo Chirico in seiner
gerade in Italien erschienenen Sozialgeschichte der
Anti-’Ndrangheta-Bewegung („Storia dell’antindrangheta“) nach.
Ein nicht geringes Verdienst der Arbeit von Chirico ist es, dass er die
Verhältnisse in Kalabrien, dem Stammsitz der ’Ndrangheta, realistisch
zeigt, [1][also in ihrer totalen Verworrenheit, ja Hoffnungslosigkeit.]
Seit einem Jahrzehnt, schreibt Chirico, sei die Antimafiabewegung in einer
Identitätskrise.
Amorph war die Antimafia immer, über Jahrzehnte geprägt von der Bewegung
der Landlosen und der Kommunistischen Partei, in den Siebzigern von
anarchistischen Gruppen der Neuen Linken, ab den Achtzigern auch von
katholischen Gruppierungen und solchen, die sich um charismatische „Leader“
und Geschäftsleute bildeten, die Schutzgeldzahlungen verweigerten; und
nicht zuletzt von mutigen Frauen und auf den Feldern Kalabriens
ausgebeuteten Migranten.
## „Leader“ im Drogenhandel
Wie kommt es zu dieser Identitätskrise? Libera, die derzeit noch
bedeutendste Organisation, kommt laut Chirico in einer Studie zu dem
Ergebnis, dass drei von vier Befragten in Italien die Mafia für ein
Phänomen halten, dessen Bekämpfung keine Priorität habe. Ihre Präsenz wird
als Teil der Normalität betrachtet, als Zweig kapitalistischen
Wirtschaftens.
Die Realität, wie sie [2][im letzten Semesterbericht der italienischen
Antimafiabehörde DIA] abgebildet wird, ist eine andere: Bei der ’Ndrangheta
handle es sich demnach um den „Leader“ im internationalen Drogengeschäft.
Durch die dort erzielten enormen Gewinne könne sie sich in alle nur
denkbaren Branchen überall auf der Welt einkaufen. Die Notlage, in die
viele Betriebe durch die Corona-Pandemie geraten seien, erleichtere ihr
diese Diversifizierung zusätzlich.
Diese ökonomische Supermacht habe dazu geführt, dass es gar nicht immer die
’Ndrangheta sei, die Politiker korrumpieren und Unternehmen erpressen
wolle; vielmehr gehe inzwischen die Initiative von der Politik aus, die bei
der Mafia um Unterstützung bei Wahlen nachsuche, und von der Wirtschaft,
die Kapital und billige Dienstleistungen nachfrage, so etwa durch die
Kontrolle und [3][Ausbeutung migrantischer Erntearbeiter durch
Clanmitglieder („caporalato“).]
Zu diesem Geschäftsmodell passt die rhetorische Antimafia als Ideologie:
Denn wenn (fast) alle gegen die Mafia sind und (fast) niemand mehr ihre
Existenz leugnet, dann kann sie so schlimm ja nicht sein – und eine
„Antimafiabewegung“ ist letztlich pathetisch und überflüssig. Früher, als
täglich geschossen und gemordet wurde, war es besser, zitiert Chirico den
Libera-Priester Don Pino Demasi.
## „Legalisierung der Mafia“
„Früher hatte man es eindeutig mit Kriminellen zu tun, heute weiß man nicht
mehr, wen man eigentlich vor sich hat. Alle reden von Antimafia, aber das
tatsächliche Verhalten vieler Leute widerspricht dem vollkommen.“ Das, sagt
Chirico, käme schon sehr nahe der vom Liedermacher Francesco de Gregori
Ende der Achtziger Jahre vorhergesagten „Legalisierung der Mafia“ als einer
Holding, die internationale Geschäfte mache und an ihrem Unternehmenssitz
in Kalabrien stabile Verhältnisse anstrebe, mit Korruption, mit Netzwerken
unter den Eliten, mit Verbindungen zu Justiz, Journalisten und
Geheimdiensten, und bei Schwierigkeiten vor allem mit Anwälten und
Verleumdungsklagen und nur im Notfall dann allerdings mit brutaler Gewalt.
Schwerpunkt der Darstellung Chiricos ist der Widerstand von unten gegen den
Herrschaftsanspruch der kriminellen Organisation. Nach 1945 beginnen im vom
Faschismus befreiten Kalabrien Landbesetzungen. Ein Gesetz hatte dem
ländlichen Proletariat die Aufteilung des Großgrundbesitzes zugesichert.
Bei einer Großkundgebung in Melissa an der Ostküste Kalabriens mit 15.000
Menschen schießt die Polizei in die Menge, drei Arbeiter werden getötet.
Aber die Bewegung erzielt auch Erfolge, die Löhne steigen an. Chirico
schreibt: „Es handelt sich hier noch nicht um Demonstrationen gegen die
’Ndrangheta, auch wenn schon die klare Verbindung einiger
Großgrundbesitzer, einer korrupten Politik und der organisierten
Kriminalität aufscheint. Die ’Ndrangheta erscheint hier manchmal selbst als
Teil der herrschenden Klasse, teils stellt sie sich ihr als Dienstleister
zur Verfügung.“
Knapp zwanzig Jahre später können auch die gelsominaie, die
Jasminpflückerinnen, einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen, nun bereits
unter beständiger Gewalt und Morddrohungen der ’Ndrangheta, die als
Schlägertruppe der Arbeitgeber fungiert. Obwohl der Antikommunismus im
Nachkriegsitalien Staatsräson ist, gelingt es, durch kollektive Aktion
unter Führung der Kommunistischen Partei (PCI), zumindest punktuell dem
Bündnis von politisch-wirtschaftlicher Herrschaft, Polizei und
organisierter Kriminalität etwas entgegenzusetzen.
In den Siebziger Jahren verändert sich die Gesellschaft in Kalabrien
radikal. Durch Großprojekte wie dem Containerhafen in Gioia Tauro, der bis
heute den Clans zum Kokainimport dient, und dem Bau der Autobahn A2
Salerno-Reggio Calabria („das längste Beweisstück Italiens“) fließen
Milliarden nach Süden, von denen die ’Ndrangheta einen enormen Anteil durch
Betrug und Bauaufträge von ihr kontrollierter Firmen in ihre Kassen lenkt.
Hinzu kommt ein lukratives Business von Entführungen, der Drogenhandel mit
Milliardenumsätzen löst den Zigarettenschmuggel ab.
## Problem „magistratura“
Die Proteste gegen den Machtzuwachs der Clans sind populär, brutal ist die
Reaktion der ’Ndrangheta. Zahlreiche Morde an PCI-Aktivisten bleiben
ungesühnt. Es ist dieser Punkt, den [4][der Historiker und einst selbst in
Kalabrien aktive PCI-Funktionär Enzo Ciconte] in seinem Vorwort hervorhebt:
Die Justiz, die heute nicht zu Unrecht für sich in Anspruch nehmen kann,
die Speerspitze im Kampf gegen die ’Ndrangheta zu bilden, sieht bis in die
1990er Jahre hinein weg, ist ängstlich, agiert opportunistisch, wenn nicht
sogar „kollusiv“, ein juristischer Terminus, der für insgeheime
Arrangements von Justiz und Kriminalität steht. Eingedenk ihrer Geschichte
stünde es den Ermittlern gut an, zivilgesellschaftliche Initiativen nicht
nur als „unkritische Unterstützer“ (Ciconte) ihrer Arbeit wertzuschätzen
oder [5][ihnen wenigstens keine Steine in den Weg zu legen.]
Cicontes Verve in diesem Punkt mag man als ein Zeichen lesen, dass eine
kritische Diskussion über die Rolle der Justiz in den von den Mafien
besetzten Regionen (Neapel/Kampanien, Apulien, Kalabrien, Sizilien) langsam
wieder möglich wird: Zuletzt konnte man in Italien kein Gespräch über die
demokratische Kontrolle des Justizapparats führen, ohne dass als Erstes
folgender ängstlicher Satz fiel: „Wir haben volles Vertrauen in die
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.“ Dass dieser Diskurs schwierig ist,
ist klar: Denn wer den italienischen Antimafiaapparat kritisiert, trifft
damit auch [6][Richter und Staatsanwälte, die seit Jahrzehnten keinen
unbewachten Schritt vor ihre Tür mehr machen konnten], weil die Mafia ein
Todesurteil gegen sie ausgesprochen hat.
Die Lage ist eben komplex. Mit dem Geld aus dem Norden modernisierte sich
die ’Ndrangheta, aber auch die Gesellschaft. Folge waren zwei brutale
Mafiakriege Mitte der Siebzigerjahre und von 1985 bis 1991 zur internen
Kontenklärung, mit fast tausend Toten, darunter auch zahlreiche
Unbeteiligte. Folge war aber auch das moralische Erwachen einer
gesamtitalienischen Zivilgesellschaft, der einfiel, dass man ja nicht nur
für die Rechte der Bewohner Palästinas, sondern auch mal für die von der
’Ndrangheta in Geiselhaft genommenen Bewohner Kalabriens auf die Straße
gehen könnte. 1991 zog der traditionelle Friedensmarsch Perugia-Assisi nach
Reggio Calabria. Das gilt als Geburtsstunde der antimafia sociale.
Dass die oft von großem persönlichen Einsatz und Mut geprägten
zivilgesellschaftlichen Initiativen, die aus dieser „sozialen Antimafia“
hervorgingen, die Verhältnisse in Kalabrien nicht zum Besseren gewendet
haben, hat vielfältige Gründe. Tatsache ist jedenfalls, dass eine
Organisation mit archaischem Namen und pseudochristlichen Riten in einer
europäischen Region ein Gesellschaftsmodell hat etablieren können, in dem
manche Beobachter die modernste Spielart des Kapitalismus sehen – einen
mafiösen Kapitalismus eben. „Die Welt teilt sich in zwei Teile: in
Kalabrien und in den, der erst noch dazu werden wird“ – das ist die
Warnung, die Danilo Chirico uns mit auf den Weg gibt.
13 Aug 2021
## LINKS
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5364216
[2] https://direzioneinvestigativaantimafia.interno.gov.it/semestrali/sem/2020/…
[3] https://www.barbara-lochbihler.de/fileadmin/user_upload/pdf/2017/BL_Mensche…
[4] /Kolumne-Mittelalter/!5319142
[5] /Politiker-ueber-die-italienische-Mafia/!5295314
[6] /Europa-ist-nicht-vorbereitet/!428138/
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Mafia
’Ndrangheta
Zivilgesellschaft
GNS
Mafia
wochentaz
Mafia
Landwirtschaft
Sky
’Ndrangheta
Mafia
Literatur
Netflix
Wochenendkrimi
Mafia
Mafia
Mafia
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kampagne gegen Bürgermeister von Bari: Rechte dichten Decaro Mafianähe an
Meloni-Anhänger wollen Ärger im Wahlkampf provozieren und starten eine
Kampagne gegen Baris Bürgermeister. Ein Bündnis fordert Solidarität mit
Decaro.
Ziviler Widerstand in Italien: Weibliche Stereotype als Waffe
Frauen organisierten den Widerstand gegen die italienischen Faschisten und
nahmen selbst das Gewehr in die Hand, sagt Historikerin Benedetta Tobagi.
Mafia-Serie bei Disney +: Flucht ohne Happy End
Die Serie „The Good Mothers“ revolutioniert die Darstellung der Mafia in
Italien mit brutalem Realismus und fantastischen Schauspielerinnen.
Migranten in Italien: Haus der Würde
In der italienischen Region Kalabrien entsteht ein Solidaritätswohnheim.
Für die afrikanischen Erntearbeiter ist das eine echte Alternative zu
Slums.
Sky-Serie „Blocco 181“: Mailand sehen und sterben
Eine neue Sky-Serie zeigt drei junge Menschen, die zwei rivalisierenden
Banden angehören. Außerdem spielt sie an einem ungewohnten Ort.
Regisseur Jonas Carpignano im Interview: „Zeigen statt erklären“
Die kalabrische Mafia ’Ndrangheta beeinflusste den neuen Film des
italienisch-amerikanischen Regisseurs Jonas Carpignano. In „Chiara“ drehte
er auch mit Laien.
Serie über Journalismus und Mafia: Das Wort, das es nicht gibt
Die Serie „L'Ora“ erzählt die Geschichte der gleichnamigen Antimafiazeitung
aus Palermo. Sie erinnert daran, was Journalismus kann und was er kostet.
Roman „Was rot war“ von Enrico Ippolito: Wofür das Herz schlägt
Der Journalist Enrico Ippolito verbindet in seinem Debütroman eine
Familiengeschichte mit einer Reise zum italienischen Kommunismus.
Netflix-Dokuserie „Vendetta“: Episch wäre besser gewesen
Auch Mafia-Storys kann man überdramatisieren. Das zeigt die Dokuserie
„Vendetta“ über einen eigentlich spannenden Aspekt sizilianischer Politik.
ZDF-Doku über Antimafia auf Sizilien: Zusammen gegen den Mob
Mit „Comeback der Mafia – Alte Clans, neue Methoden“ legt die Filmemacher…
Chiara Sambuchi eine tolle Doku über mutige Mafiagegner in Palermo vor.
10 Jahre Mafia-Morde von Duisburg: Die graue Zone
Am Dienstag jähren sich die Morde von Duisburg. In ihrer Ursprungsregion
Kalabrien ist die ’Ndrangheta eher noch mächtiger geworden.
Kolumne Mittelalter: Die Mafia-Faschismus-Connection
Was wird aus Europa? In Berlin erzählte ein italienischer Historiker, was
mal fast daraus geworden wäre und welche Rolle „Säbelrasseln“ haben kann.
Politiker über die italienische Mafia: „Das Spektakel muss aufhören“
Francesco Forgione über korrupte italienische Eliten, Kampagnen gegen die
Anti-Mafia-Bewegung und die Nachwehen des Berlusconismus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.