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# taz.de -- In den grauen Zonen Kalabriens
Bild: Vergiftetes Paradies
von Ambros Waibel
Kurz bevor Anis Amri, der Attentäter von Berlin, am 23. Dezember 2016 nahe
Mailand erschossen wurde, soll er noch gesagt haben: „Ich bin aus Reggio
Calabria.“ Eine Freundin aus Kalabrien schrieb dazu auf Facebook: „Zu
sagen, dass man Kalabrese sei, hat einem bei der Polizei noch nie
geholfen.“
Diese spezifische Ironie, die manchmal in Sarkasmus abgleitet, öfter aber
bei melancholischen Vergeblichkeitsgesten stehen bleibt, kenne ich aus
Reggio Calabria seit meinem ersten Besuch 1990. Die Stadt liegt spektakulär
an den Ausläufern des Aspromonte-Massivs, die palmengesäumte
Strandpromenade gilt als der schönste Kilometer Italiens und öffnet den
Blick auf Ätna und Stretto, die Meerenge zwischen Kalabrien und Sizilien,
die schon Odysseus durchfahren hat.
Dass Reggio den Blick vom Meer abgewandt hat, ist die Folge mehrerer
Katastrophen. Am 28. Dezember 1908 machte das Erd- und Seebeben von Messina
aus dem schönen und freundlichen Hafenstädtchen, das Besucher im 19.
Jahrhundert beschrieben haben, einen Trümmerhaufen. Mindestens ein Drittel
der Einwohner kam ums Leben. Die verwüstete Innenstadt bekam beim
Wiederaufbau ein paar repräsentative Jugendstilbauten spendiert, und die
aus dem zerstörten Umland in städtische Notunterkünfte strömende
Landbevölkerung besiedelte die wuchernde Peripherie, die das Reggio von
heute abseits des Zentrums zum hässlichen Moloch macht.
Die nächste Katastrophe kam 1915, mit dem Kriegseintritt des Königreichs
Italien. Die meisten der Gefallenen stammten aus Süditalien. Doch die Stadt
glich die Verluste aus: Reggio zog Zuwanderer aus dem wilden Hinterland an
– dem bäuerlichen, Schweine züchtenden Aspromonte, mit seiner archaischen
Sozialstruktur und seiner kriminellen Organisation. Reggio und Provinz sind
heute in den Händen von ein paar Dutzend Clans, Zentrale der ’Ndrangheta,
eines der mächtigsten, global operierenden Verbrechersyndikate. Reggio war
2012 die erste Provinzhauptstadt Italiens, deren Stadtregierung wegen
Unterwanderung durch die organisierte Kriminalität aufgelöst wurde.
Ein Abendessen in Reggio in privater Runde, im Herbst 2010. Für den
nächsten Tag bin ich mit Polizisten der Spezialeinheit Raggruppamento
operativo speciale verabredet. Die Carabinieri werden mich durch die
Ebene von Gioia Tauro begleiten, eine knappe Autostunde nördlich von
Reggio, rund um den Containerhafen, dem wichtigsten Umschlagplatz für
alles, was die’Ndrangheta interessiert, vor allem für Kokain.
Kurz bevor wir an dem Abend das Haus betreten, nimmt mich der
Anti-Mafia-Aktivist Claudio La Camera beiseite. „Es wäre vielleicht besser,
nicht zu erwähnen, was du morgen vorhast. Und mit wem du unterwegs sein
wirst.“ La Camera hat mir bei der Vorrecherche sehr geholfen. Wenn ich mit
ihm eine Polizeistation betrete, bieten die grimmigen Wachen Kaffee an und
sagen Sätze wie: „Wir machen nur unseren Job – aber Claudio hier ist ein
Held.“ Mir fällt auf La Cameras Hinweis zunächst nichts ein. Was soll ich
dazu sagen, dass er mich zu Freunden mitnimmt, die keine sind?
Gehören nicht wenigstens hier alle zu den Guten, frage ich schließlich.
Hier beginnt die „graue Zone“, die Farbe des im blendenden Sonnenlicht
scheinbar so paradiesischen Reggio. Es sei eine Person dabei, sagt La
Camera, die zu einer’Ndrangheta-Familie gehöre. Das sei erst mal nur ein
Familienname. Aber sie sei eben nicht hundertprozentig vertrauenswürdig.
Die anderen stehen wartend in der Tür, ich sage okay, und wir gehen hoch.
Zwei Stunden, viele Gänge und Weinflaschen später spricht mich eine junge
Frau aus der großen Runde unvermittelt an: Was ich morgen denn so vorhätte.
Ich erzähle ihr alles; und wenn mir die Namen der Carabinieri – die ich nie
erfahren werde – bekannt gewesen wären, hätte ich sie ihr auch noch
verraten. Aus den Augenwinkeln sehe ich La Camera lächeln, mit einem
Ausdruck zwischen Fatalismus und Belustigung. Später, wieder vor dem Haus,
versuche ich mich stammelnd bei ihm zu entschuldigen, ich bin nur ein
naiver Deutscher, sage ich, es tut mir leid. Nicht so schlimm, sagt er.
In der Tat ist Claudio La Camera in den folgenden Jahren bedeutend
Bedrohlicheres widerfahren als die Unbedachtheit eines deutschen
Journalisten. Sein Fall – im doppelten Wortsinne – ist exemplarisch für die
Stimmung gegenüber der Anti-Mafia-Bewegung in Italien. Denn nachdem in
Reggio nicht zuletzt durch das von ihm angeschobene Anti-Mafia-Zentrum
Osservatorio sulla ’ndrangheta eine neue Kultur des öffentlichen Sprechens
über die alles durchdringende Präsenz der organisierten Kriminalität
eingezogen war, hat nun nach Jahren der Drohungen und
Einschüchterungsversuche seitens der’Ndrangheta ausgerechnet die
Staatsanwaltschaft seinen Ruf ruiniert. Ihre Ermittlungen gegen ihn – über
die er nie offiziell informiert wurde – laufen seit drei Jahren und sollen
zu einem Prozess wegen Zweckentfremdung öffentlicher Mittel führen. Bei der
Ineffizienz des italienischen Justizsystems wird er sich über Jahre
hinziehen. Claudio La Camera, der die Vorwürfe zurückweist, ist damit als
Aktivist kaltgestellt.
Der Journalist und ehemalige Vorsitzende der Anti-Mafia-Kommission des
italienischen Parlaments, Francesco Forgione, sieht in La Cameras und
ähnlichen Fällen eine Kampagne von Teilen der Justiz. Der Schaden für die
Anti-Mafia-Bewegung sei enorm: denn ihre größte Stärke liege in ihrer
moralischen Kraft und Glaubwürdigkeit.
Der Vorwurf gegen die Aktivisten ist immer der gleiche: aus dem Engagement
ein Geschäft gemacht zu haben. Der ältesten und größten Organisation,
Libera, geleitet von dem Priester Don Ciotti, der im vergangenen Oktober
den mit 10 000 Euro dotierten Mietek Pemper Preis der Universität Augsburg
erhalten hat, wird aus Justizkreisen nachgesagt, sie habe nichts mehr mit
dem ursprünglichen Anti-Mafia-Engagement zu tun. Wenn man die von Libera
auf konfisziertem’Ndrangheta-Land betriebene Agrargenossenschaft in Gioia
Tauro besucht und ihr Engagement für die faktisch rechtlosen migrantischen
Saisonarbeiter vor Ort sieht, wirken solche Vorwürfe zumindest stark
überzogen – und legen gewisse Schlüsse nahe.
Etwa den, dass das vor zwanzig Jahren per Referendum auf den Weg gebrachte
Gesetz 109/96 zur Konfiszierung und Wiederverwertbarkeit von Mafiabesitz
für soziale Zwecke manchen zu erfolgreich geworden ist; dass es im
Hintergrund um beträchtliche Vermögenswerte geht, die der Zivilgesellschaft
wieder entzogen werden sollen. Die Mafiafamilien könnten dann ihre
beschlagnahmten und auf den freien Markt geworfenen Immobilien über
Strohmänner zurückkaufen – und hätten lediglich eine Art Steuer bezahlt.
Damit ist nicht gesagt, dass die Leute und Organisationen von der
Anti-Mafia-Bewegung mit den ihnen anvertrauten Vermögenswerten immer
korrekt umgegangen sind. Und bei konkreten Vorwürfen muss es
selbstverständlich transparente Ermittlungen und zügige Verfahren geben.
Etwas ganz anderes aber ist die destruktive Lust an der Gleichsetzung von
Mafia und Anti-Mafia, die auch den prominentesten Vertreter der Anti-Mafia,
Roberto Saviano, mit Häme überzieht.
In Reggio, erzählt der Journalist Claudio Cordova, hat diese Kampagne
inzwischen absurde Auswirkungen: In dem Bemühen, sich nur ja nicht in eine
Falle locken zu lassen, vermeiden engagierte Leute, die miteinander
befreundet sind, den Kontakt zueinander. Man versuche, auch um den Preis
der Isolation, sich nicht in die Grauzone hineinziehen zu lassen, wo alle
mehr oder weniger verstrickt seien, wo es kein moralisches „richtig“ und
„falsch“ mehr gebe. Und das in einer Stadt, in der die Geschäfte und
Restaurants, die kein Schutzgeld zahlen, sich an zwei Händen abzählen
lassen; einer Stadt, in der die Besetzung von Posten in der von politischem
Ehrgeiz geprägten und in verfeindete Grüppchen zerfallenen
Staatsanwaltschaft diskutiert wird wie anderswo die Neuerwerbungen des
örtlichen Fußballvereins.
Denn in Reggio gelten nur die Justiz und die Polizei noch als
Institutionen, in denen Schwarz und Weiß überhaupt noch zu unterscheiden
sind. Nur hier, nicht in der hoffnungslos unterwanderten Politik und
Wirtschaft, können die, die nicht resigniert haben, die nicht wie so viele
andere emigrieren wollen, nach Verbündeten suchen.
Reggio ist, wenn man so will, die Avantgardestadt der Fake News, der völlig
desolate Ort, wo Verwirrung und Verleumdung total sind, wo der Feind
gesiegt hat. Und das Beunruhigende daran ist, dass die Sonne weiter
scheint, das typische Fleisch des kalabresischen schwarzen Schweins so gut
schmeckt wie eh und je und die meisten Menschen, mit denen man zu tun
bekommt, auf eine schicksalsergebene Art bezaubernd freundlich sind: Das
Beunruhigende ist, dass das System Reggio blendend funktioniert.
Ambros Waibel ist Redakteur der tageszeitung.
© Le Monde diplomatique,Berlin
12 Jan 2017
## AUTOREN
Ambros Waibel
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