| # taz.de -- Migranten in Italien: Haus der Würde | |
| > In der italienischen Region Kalabrien entsteht ein Solidaritätswohnheim. | |
| > Für die afrikanischen Erntearbeiter ist das eine echte Alternative zu | |
| > Slums. | |
| Bild: Mandarinen in Rosarno | |
| In der westafrikanischen Sprache Bambara heißt es Dambe-So, „Haus der | |
| Würde“. Es handelt sich um ein Projekt, an dem afrikanische Arbeiter | |
| beteiligt sind, die auf den Feldern [1][der Ebene von Gioia Tauro] in den | |
| Herbst- und Wintermonaten Zitrusfrüchte ernten. | |
| Seit vielen Jahren leben etwa 2.000 Saisonarbeiter in behelfsmäßigen | |
| Unterkünften, zum Teil ohne Heizung und sanitäre Anlagen. Im Winter werden | |
| diese Ghettos oft zu Todesfallen, weil die Bewohner offenes Feuer machen, | |
| um gegen die Kälte anzukämpfen. Etwa ein Drittel der rund um den Ort | |
| Rosarno lebenden Arbeiter bleiben nach der Erntesaison vor Ort, anstatt | |
| weiterzuziehen. Mit schlecht bezahlten Jobs versuchen sie zurechtzukommen. | |
| Man kann nicht sagen, dass sie in eine besonders gastfreundliche Gegend | |
| geraten wären, aber sie haben keine Wahl, oft besitzen sie weder Ausweis- | |
| noch Arbeitspapiere. | |
| Für die afrikanischen Erntehelfer in der Ebene von Gioia Tauro [2][gibt es | |
| seit 2010 immer mal wieder ein paar Tage mediale Aufmerksamkeit.] Damals | |
| schossen Einheimische auf Migranten, die wehrten sich mit erst friedlichen, | |
| dann mit zornig-gewalttätigen Protestmärschen. | |
| Seitdem wurde viel über sie gesprochen, aber kaum einmal mit ihnen. Niemand | |
| wollte wissen, welche Hoffnungen und Träume sie als Individuen hatten, | |
| jenseits der Plackerei, für ein paar Euro am Tag Mandarinen und Zitronen zu | |
| ernten. Viele von ihnen sind gestorben, zugrunde gegangen an den extrem | |
| ungesunden Lebensbedingungen in den Slums, an fehlender medizinischer | |
| Versorgung, durch Unfälle in den Lagern und bei der Arbeit, durch | |
| Gewalttaten. | |
| ## Arbeit ohne Pause | |
| Man ließ die Sache laufen, die Ausbeutungsverhältnisse verfestigten sich. | |
| Skrupellose Unternehmer vor Ort arbeiteten mit Migranten zusammen, die | |
| billige Arbeitskräfte aus ihrer jeweils eigenen ethnischen Gruppe | |
| rekrutierten. Der Verdienst lag bei 2 Euro pro Stunde für 10 Stunden Arbeit | |
| ohne Pause. Von diesem Hungerlohn war noch das Bestechungsgeld abzuziehen, | |
| das an den Arbeitsvermittler zu zahlen war. | |
| Die italienische Justiz hat begonnen, dieses System zumindest am | |
| reibungslosen Funktionieren zu hindern; ein System, das Armut und Not der | |
| Arbeiter sowie ihren illegalen Status ausnutzt. Was die zum Teil noch | |
| laufenden Untersuchungen und Prozesse ans Licht bringen, hat einen Teil der | |
| italienischen Öffentlichkeit wachgerüttelt und sorgte für Empörung über die | |
| unter brutalen Ausbeutungsverhältnissen erzeugten Lebensmittel, die dann | |
| sauber verpackt in den Supermärkten und auf den Tischen der Verbraucher | |
| landen. Und so haben afrikanische Migranten und Italiener gemeinsam eine | |
| neue Vision landwirtschaftlicher Kultur zu entwickeln begonnen, die auf | |
| Respekt für die Natur und die Menschenrechte beruht. | |
| Der Verein SOS Rosarno und die Kooperative Mani e Terra haben eine | |
| Direktvermarktung zwischen Erzeugern und Verbrauchern aufgebaut, mit | |
| Bioprodukten, deren Herstellung eine Arbeit in Würde ermöglicht. Sie wollen | |
| ein neues Bild der bäuerlichen Welt vermitteln, jenseits von Konsumismus | |
| und Globalisierung, für ein gerechtes und faires Arbeitsleben. Dambe-so, | |
| eine Initiative der Mediterranean Hope/Fcei Association, wurde im Rahmen | |
| dieser Vision einer kreislauforientierten und nachhaltigen Wirtschaft | |
| geboren. | |
| Das Wohnheim befindet sich im Stadtteil Era Nova des Küstenörtchens San | |
| Ferdinando, 50 Meter vom öffentlichen Strand entfernt. San Ferdinando liegt | |
| ganz in der Nähe der bekanntesten Badeorte Kalabriens: Scilla, Palmi und | |
| Tropea. Das Viertel hat eine dramatische Geschichte sozialer Kämpfe hinter | |
| sich: Die Bauern wurden jahrhundertelang ausgebeutet und schließlich von | |
| ihrem Land vertrieben, weil man von industriellen Großprojekten träumte, | |
| die dann nie vollständig realisiert wurden. | |
| Um an einige der Protagonisten der Gewerkschaftskämpfe zu erinnern, hat | |
| Mediterranean Hope einen Garten des Gedenkens angelegt, in dem unter | |
| anderem an Giuditta Levato, eine Vertreterin der Kommunistischen Partei | |
| Italiens, erinnert wird. Giuditta war die Initiatorin und Anführerin der | |
| Kämpfe gegen die Großgrundbesitzer, die sich gegen die Landreform von 1944 | |
| stellten. Im Alter von 31 Jahren wurde sie bei einem Protestmarsch getötet. | |
| An einem Ort gescheiterter Hoffnungen wird nun gezeigt, dass die Geschichte | |
| offen ist und der Kampf für Befreiung nie aufhört. | |
| ## Niedrigschwellige Bedingungen | |
| Die renovierten und möblierten Wohnungen für zwei bis vier Personen | |
| bestehen aus einem oder zwei Schlafzimmern, Küche, Wohnzimmer, eigenem Bad | |
| und Balkon. Voll ausgebaut soll das Haus so Platz für 90 Bewohner bieten. | |
| Die Anforderungen bei der Antragsstellung sind bewusst sehr niedrig | |
| gehalten. Nur wer Alkohol- oder Drogenprobleme hat, kann nicht aufgenommen | |
| werden, weil es bislang keine Betreuungsstrukturen gibt, um damit | |
| verantwortlich umzugehen. | |
| Ein Teil der Herberge ist einem solidarischen Tourismus vorbehalten: Man | |
| kann Projekte und Unterstützungsnetzwerke kleiner kalabrischer | |
| Landwirtschaftsbetriebe besuchen und an den zahlreichen Veranstaltungen | |
| teilnehmen, die zur Unterstützung des Wohnheims organisiert werden. | |
| Eine dieser Veranstaltungen ist [3][das Filmfestival „Out of the Ghetto“,] | |
| das vom 14. bis 16. Oktober mit einer Jury aus Saisonarbeitern stattfinden | |
| wird. Auf dem Festival, das auch von dem Filmemacher und Aktivisten Ken | |
| Loach gefördert wird, werden Kurzfilme zum Thema Arbeit gezeigt, die vom | |
| Leben der Werktätigen berichten. Anmeldungen können bis zum 10. September | |
| 2022 an [email protected] gesendet werden. | |
| Die große und positive Resonanz auf die Eröffnung des Wohnheims zeigt vor | |
| allem eines: Ausbeutung und Verelendung von migrantischen Erntearbeitern | |
| lässt sich durch politische Maßnahmen erfolgreich bekämpfen. Die | |
| Bereitstellung von lokalem Wohnraum und die Sensibilisierung für die | |
| strukturellen Ursachen der Notlage gehören zusammen, gleichzeitig müssen | |
| Alternativen zum Produktions- und Distributionssystem der | |
| Lebensmittelmultis aufgebaut werden. | |
| ## Migranten möglichst weit weg | |
| Leider verstehen das die politischen Institutionen und ein Teil der | |
| Zivilgesellschaft noch nicht. Es herrscht hier weiter eine Logik der | |
| Vernachlässigung, gefolgt von hektischen, nicht nachhaltigen | |
| Notfallmaßnahmen: Der italienische Staat und die lokalen Institutionen | |
| planen den Bau von Wohnmodulen in den Randgebieten der Kommune. Viel Geld | |
| wird in die Hand genommen, um die Migranten möglichst weit weg von den | |
| „normalen“ Bürgern unterzubringen, ein weiteres Gefängnis, wie all jene, | |
| die seit Jahrzehnten für beziehungsweise gegen Migranten errichtet wurden. | |
| Denn auch ein modernes Gebäude, in dem nicht mehr die Ratten herumspringen, | |
| bleibt ein Ghetto, wenn es nicht in den sozialen Kontext einer Gemeinde | |
| eingebunden ist. | |
| Das Haus der Würde hat gerade erst losgelegt, die Pläne sind groß. In den | |
| nächsten Jahren sollen mithilfe der evangelischen Kirchen in Italien, | |
| Deutschland und der Schweiz weitere Wohnheime entstehen. Dabei geht es | |
| nicht um Almosen, sondern um Win-Win. Die Migranten zahlen eine geringe | |
| Miete und bekommen dafür ein würdevolles Zuhause und nicht zuletzt eine | |
| Meldeadresse, mit der sie sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemühen können. | |
| Sie sind Teil einer Gemeinschaft und dem brutalen Überwachungsregime in den | |
| Slums entzogen. | |
| Dambe-so ist offen für alle Besucher:innen, der Aufenthalt ist kostenlos, | |
| Spenden sind willkommen – damit weiterhin Solidarität gelebt werden kann. | |
| 2 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Buch-ueber-die-Antimafia/!5788490 | |
| [2] /Rassismus-im-Dorf-Rosarno/!5149714 | |
| [3] https://altreconomia.it/fuori-dal-ghetto-a-rosarno-un-festival-cinematograf… | |
| ## AUTOREN | |
| Claudio La Camera | |
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