| # taz.de -- 13 Jahre Haft für Mimmo Lucano: Kalabriens Skandalurteil | |
| > Mimmo Lucano schaffte als Bürgermeister ein kleines Wirtschaftswunder | |
| > mitten in der Flüchtlingskrise. Nun soll er 13 Jahre in Haft. | |
| Bild: Mimmo Lucano bei einer Lesung im Dezember | |
| Mimmo Lucano galt vielen mal als Held der Migrationskrise. Zumindest war | |
| der ehemalige Bürgermeister des süditalienischen Städtchens Riace in | |
| Kalabrien ein Macher. Einer, der mit dem bisschen, was der Staat für | |
| Mittelmeerflüchtlinge zu geben bereit war, etwas anzustellen wusste. Nun | |
| wandelt sich Lucanos Image vom Wohltäter zum gierigen Verbrecher. Grund ist | |
| ein Korruptionsprozess gegen ihn, in dem offenbar die Verhältnismäßigkeit | |
| verloren gegangen ist. [1][13 Jahre soll der Mann hinter Gitter, wie seit | |
| September klar ist]. Die jetzt veröffentlichte Urteilsbegründung zeichnet | |
| das Bild eines Mannes, der sich angeblich vom Paulus zum Saulus gewandelt | |
| hat. Ist das gerecht? | |
| Als „Modell Riace“ wurde Mimmo Lucanos Politik bekannt. In seiner Zeit als | |
| Bürgermeister zwischen 2004 und 2018 wusste Lucano die Bedürfnisse der | |
| Geflüchteten zu verbinden mit denen seiner 1.800-Seelen-Gemeinde, die mit | |
| Abwanderung zu kämpfen hatte. | |
| 450 Migrant*innen wurden angesiedelt. Von der Regierung gab es dafür 35 | |
| Euro täglich pro Person – wie überall in Italien. Nur dass dieses Geld | |
| anderswo häufig von korrupten Kooperativen in eigene Taschen gewirtschaftet | |
| wurde, während man die Migrant*innen unter elenden Bedingungen | |
| unterbrachte. | |
| Mimmo Lucano dagegen nutzte die Staatsgelder als ein kleines | |
| Konjunkturpaket, gründete Handwerksbetriebe, in denen Zugewanderte wie | |
| Einheimische Arbeit fanden, schaffte Jobs in der Flüchtlingshilfe, öffnete | |
| die Dorfschule wieder. „Aufnahme-Keynesianismus“ nannte das mal die | |
| Nachrichtenseite true-news.it. Medien berichteten weltweit über Riace, Wim | |
| Wenders drehte einen Film, die Stadt Dresden verlieh Lucano 2017 ihren | |
| Friedenspreis. | |
| ## Drakonisches Urteil | |
| [2][Dann kam die Anklage]. Und wenn man nun dem Urteil des kalabrischen | |
| Richters Fulvio Accurso in allem folgen will, dann wäre so ziemlich die | |
| ganze Welt auf einen raffinierten Blender reingefallen. Bildung einer | |
| kriminellen Vereinigung, Amtsmissbrauch, Betrug, Urkundenfälschung, | |
| Veruntreuung und Unterschlagung staatlicher Gelder. All dessen wurde Lucano | |
| im September schuldig gesprochen. Obgleich selbst Richter Accurso ihm | |
| zugesteht: Lucano habe, getrieben von „purer Leidenschaft“, „das | |
| lobenswerte Inklusionsprojekt für Migranten realisiert“, das „zum | |
| sogenannten Modell Riace wurde, in der ganzen Welt beneidet und zum Vorbild | |
| genommen“. | |
| Die lange Urteilsbegründung für das drakonische Urteil von 13 Jahren liegt | |
| nun vor. Auf gut 900 Seiten schreibt der Richter, warum er Lucano so lange | |
| weggesperrt sehen will. Es sind der Vorwürfe viele, es deutet aber einiges | |
| darauf hin, dass sich hier nicht etwa ein gewiefter Betrüger unter dem | |
| Deckmantel der Wohltat selbst bereicherte. Viel eher verstand Lucano nicht | |
| viel von Bürokratie, oder kümmerte sich wenig um sie – und verlor den | |
| Überblick über das von ihm geschaffene bürokratische Chaos. | |
| ## Eine Win-win-Situation geschaffen | |
| Da ist zum Beispiel die Sache mit überschüssigem Geld, das Lucano hätte | |
| zurücküberweisen müssen. Der Richter stellt es wie folgt dar: „Als er | |
| bemerkte, dass die vom Staat überwiesenen Beträge mehr als ausreichend | |
| waren, überwies er sie nicht zurück, sondern investierte auf privatem Weg | |
| einen Großteil der Ressourcen in Projekte zur Aufwertung des Ortes, die | |
| nicht nur ein Sprungbrett für seine politische Sichtbarkeit bildeten, | |
| sondern auch zahlreiche Investitionen nach sich zogen.“ | |
| Dass er damit nicht sich selbst bereicherte, sieht zwar auch der Richter – | |
| Lucano sei arm, habe gerade einmal ein paar Tausend Euro auf dem Konto. Er | |
| sei aber auf Stimmenfang gewesen und habe außerdem fürs Alter vorsorgen | |
| wollen. Richtig an diesem Befund ist nur eines: Lucano hatte eine | |
| Win-win-Situation geschaffen. Dank der Präsenz der Flüchtlinge in Riace | |
| waren Gelder da, um den heruntergekommenen Ortskern instandzusetzen. | |
| ## Renovierung von Häusern | |
| Diese Gelder nutzte Lucano zum Beispiel für den Ankauf und die | |
| Restaurierung einer alten Ölmühle und für die Renovierung leerstehender | |
| Häuschen. Wenn ihm jetzt im Urteil vorgehalten wird, er habe besagte | |
| Ölmühle als private Alterssicherung betrachtet, so macht dies nur deutlich, | |
| dass der Richter wohl nie in Riace war: Die Mühle ist ein historisches | |
| Schmuckstück im Ortskern, doch niemand lässt hier seine Oliven zum | |
| Extra-Vergine-Öl pressen. | |
| Der Richter schreibt außerdem von regelmäßigen Zahlungen, die aus dem | |
| bekannten Steuerparadies Cayman Islands nach Riace flossen. Das waren, über | |
| einige Monate hinweg, jeweils 800 bis 900 Euro. Genau in jenen Monaten | |
| hatten US-amerikanische Kreuzfahrt-Tourist*innen regelmäßig auch in Riace | |
| Halt gemacht und dort gegessen. Der Veranstalter hatte die Rechnungen vom | |
| Cayman-Konto aus beglichen. | |
| ## Ein Skandalurteil | |
| Man darf getrost von einem Skandalurteil sprechen. Lucano hat zweifellos | |
| Vorschriften missachtet, aber ob das strafrechtlich relevant ist, ist | |
| strittig. Und dass bei einem Strafmaß von 13 Jahren kein Spielraum nach | |
| unten gewesen sein soll, ist schwer zu glauben. | |
| Für etwas Kontext muss hinzugefügt werden: Die Ermittlungen gegen Lucano | |
| wurden damals gar nicht von der Justiz selbst eingeleitet, sondern vom | |
| damaligen Präfekten in Reggio Calabria, Michele Di Bari. Di Bari machte | |
| dank seines Verfolgungseifers gegen das „Modell Riace“ Karriere. 2019 | |
| beförderte ihn der damalige Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini zum | |
| Leiter der „Abteilung für Bürgerfreiheiten und Immigration“ im Ministeriu… | |
| ## Wellblech, Pappe, Plastikplanen | |
| Das ist wichtig, weil Di Bari erst kürzlich überstürzt zurückgetreten ist. | |
| Seine Frau betreibt einen großen Landwirtschaftsbetrieb in Apulien, wofür | |
| sie Erntehelfer*innen aus Osteuropa oder Afrika anheuert, die dort in | |
| Baracken hausen und schwarz beschäftigt werden. Di Baris Gattin nutzte | |
| immer wieder die Dienste von sogenannten Caporali, illegal tätigen | |
| „Korporals“, die Migrant*innen solche Elendsjobs vermitteln. 25 Euro | |
| netto bekamen die Arbeiter*innen für einen Zehnstundentag, die Abende | |
| verbrachten sie in einem Albtraum aus Wellblech, Pappe, Plastikplanen. | |
| Di Bari scheint zum „Integrationsmodell“ seiner Frau keine weiteren Fragen | |
| gehabt zu haben. Den Skandal sah er lieber woanders: in Riace. Tragisch, | |
| dass die Justiz ihm darin folgt. | |
| 27 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
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