# taz.de -- Film über homosexuelle Liebe: Vom Verbindenden im Fremdsein | |
> Schwules Begehren, Einsamkeit und Sehnsucht nach Verbundenheit. Andrew | |
> Haigh hat mit „All of Us Strangers“ ein sentimentales Melodram gedreht. | |
Bild: Adam (Andrew Scott) und sein mysteriöser Nachbar Harry (Paul Mescal) | |
Es bleibt“, so hat Hermann Hesse einmal notiert, „zwischen zwei Menschen, | |
sie seien noch so eng verbunden, immer ein Abgrund offen, den nur die | |
Liebe, und auch nur mit einem Notsteg, überbrücken kann.“ Je nachdem, ob | |
man sich für diese Beschreibung tiefer menschlicher Einsamkeit und der | |
Sehnsucht nach Verbundenheit erwärmen kann oder sie als gefühligen Kitsch | |
abtut, wird man sich wahrscheinlich auch von Andrew Haighs neuem Film | |
berührt fühlen – oder aber sich an seiner Rührseligkeit stören. | |
Mit „All of Us Strangers“ hat der britische Filmemacher ein sentimentales | |
Melodram gedreht. Es ist ein Film über schwules Begehren, das Gefühl des | |
Fremdseins bis in die eigene Familie hinein und den Wunsch nach Liebe, | |
durch die am Ende doch noch alles gut werden könnte. | |
Dafür führt Haigh mit ungekannter Emotionalität jene Themen zusammen, die | |
sein Schaffen immer wieder prägen: [1][Das Empfinden von Isoliertheit | |
(„Lean on Pete“)], die Furcht davor, sich bei allem entgegengerichteten | |
Verlangen wahrlich zu öffnen („Weekend“, „Looking“), und vor allem die | |
riskante Versuchung, stattdessen in der Vergangenheit nach Geborgenheit zu | |
suchen und darüber die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren ([2][„45 | |
Years“]). | |
In diesem, seinem fünften Spielfilm, gibt Andrew Haigh allerdings die | |
sonstige Nüchternheit seines Inszenierungsstils auf und beschwört mit einer | |
ungewöhnlich warmen Farbpallette und einem Soundtrack, auf dem sich Frankie | |
Goes to Hollywoods „The Power of Love“ gleich mehrmals findet, nicht nur | |
die ganz großen Gefühle herauf. Auch die Toten selbst werden bemüht. Oder | |
sind es nur die Erinnerungen, die seinen Protagonisten Adam (Andrew Scott) | |
heimsuchen? In ihm, ein Drehbuchautor mittleren Alters, der an einer | |
Schreibblockade leidet, kulminieren all diese Motive jedenfalls. | |
## Adam lebt alleine | |
Adam lebt alleine in einem seltsam steril wirkenden Bürokomplex am | |
Stadtrand Londons, in seinem teuren Apartment stapeln sich die | |
Take-Away-Boxen, der Fernseher flimmert unaufhörlich vor sich hin, um die | |
Stille auszutreiben. Die Einsamkeit hat ihn sichtlich im Griff, doch als | |
ihn sein anscheinend einziger Nachbar Harry (Paul Mescal) eines Nachts | |
angetrunken auf einen Drink einlädt und ihm schließlich noch ein zweites, | |
weniger unzweideutiges Angebot unterbreitet, lehnt er ab. | |
Stattdessen treibt es Adam in sein altes Heimatdorf, einen piefigen Vorort | |
der britischen Hauptstadt. Während seines ziellosen Umherstreifens | |
begegnet er dort unvermittelt seinem Vater (Jamie Bell). Wie sich bald | |
herausstellt, wirkt der etwa gleichalt aussehende Mann mit | |
Achtziger-Jahre-Schnauzbart und abgewetzter Lederjacke nicht nur aus der | |
Zeit gefallen. Er ist es tatsächlich. Als Adam zwölf Jahre alt war, kamen | |
sein Vater und seine Mutter (Claire Foy) bei einem Autounfall ums Leben. | |
Wie es sein kann, dass die Beiden plötzlich wieder in seinem seit damals | |
gänzlich unverändertem Elternhaus leben, erklärt Andrew Haighs Film, der | |
lose auf dem japanischen Geisterroman „Sommer mit Fremden“ von Taichi | |
Yamada basiert, nicht. Um derlei erzählerische Einzelheiten geht es „All of | |
Us Strangers“ zumindest in dieser traumähnlichen Dimension seiner | |
Geschichte aber auch gar nicht, sondern vor allem um Trost, um Anerkennung | |
und späte Wiedergutmachung. | |
## Hemdsärmeliger Vater aus der Arbeiterschicht | |
Jamie Bell spielt den hemdsärmeligen Vater aus der Arbeiterschicht, der | |
unter seiner ruppigen Männlichkeit aber eine große Liebe für seinen Sohn | |
hegt, zwar überraschend überzeugend. Und auch Claire Foy ist wahrlich | |
umwerfend als warmherzige Mutter, die einzig, als Adam sich ihr gegenüber | |
outet, aus Sorge um sein Wohlergehen (Krankheit! Kinderlosigkeit! | |
Schikane!), kurz in schroffe Panik verfällt –ansonsten aber nur aus Hingabe | |
für ihren Sohn zu bestehen scheint. | |
Auch die Frage, die Andrew Haigh eröffnet, was man wohl mit verstorbenen | |
Verwandten bereden würde, wenn man nochmal die Gelegenheit dazu hätte, ist | |
in sich so reizvoll wie rührend. „All of Us Strangers“ strebt allerdings zu | |
sehr danach, jeden Dissens in schnödes Wohlgefallen aufzulösen, um daraus | |
ein packendes Gedankenspiel zu entwickeln. Als Adam seinen Eltern davon | |
erzählt, was sich seit ihrem Tod in seinem Leben ereignete, von seinem | |
Beruf als Autor, seiner Wohnung in London etwa, reagieren sie mit | |
uneingeschränkter Begeisterung. | |
Auch wenn alte Traumata thematisiert werden und Adam anspricht, was in | |
seiner Kindheit unausgesprochen blieb, finden seine Eltern eine passende | |
Entschuldigung auf jede seiner schmerzlichen Erinnerungen. Etwa daran, dass | |
der Vater ihn mit seinen Tränen allein ließ, als der Sohn wegen seiner | |
Andersartigkeit in der Schule zum Außenseiter wurde. Die bald regelmäßigen | |
Besuche bei seinen Eltern sind Balsam für Adam und Linderung für das | |
nagende Gefühl des Fremdseins, das sie ihm wahrscheinlich ohne Absicht | |
vermittelten. | |
Schlicht durch ihre Erwartungen, dass ihr Sohn in jeder Hinsicht wie alle | |
anderen Kinder sein würde – und ihm auswichen, wo sich Anderes abzeichnete. | |
In Momenten, in denen der erwachsene Adam im Kinderschlafanzug ins Ehebett | |
seiner Eltern schlüpft oder von seiner Mutter zärtlich Zeilen aus „Always | |
on my Mind“ der Pet Shop Boys vorgesungen bekommt, wirkt „All of Us | |
Strangers“ allerdings auch an das Publikum gerichtet wie kollektive | |
Kinotherapie, ein schales filmisches „Alles wird gut“. | |
## Versöhnlicher Ansatz | |
Man kann in Andrew Haighs versöhnlichem Ansatz eine betörende | |
Barmherzigkeit sehen. Dass ihm gleichsam eine gewisse Grausamkeit | |
innewohnt, weil sein Trost in einer Illusion besteht, also gänzlich | |
außerhalb des Möglichen liegt, lässt sich aber nur schwer leugnen. Ebenso | |
wenig, dass Dialoge, die unter dem strengen Vorzeichen der Versöhnung | |
stehen, und Szenen, die letztlich immer in der Affirmation münden, bald | |
repetitiv wirken müssen. | |
Wesentlich bestechender ist „All of Us Strangers“ in seiner Meditation über | |
die Sehnsucht nach Nähe und die Dinge, die ihr im Wege stehen, wenn sich | |
der Film in seinem zweiten, zwischen den elterlichen Besuchen langsam | |
erwachsenden Handlungsstrang der besonderen Dynamik zwischen Adam und Harry | |
widmet. | |
Als zwischen den beiden Männern schließlich dennoch eine Affäre entsteht, | |
die bald in eine enge Beziehung übergeht, zeigt der ältere Adam eine | |
tiefere Scham gegenüber seiner eigenen Körperlichkeit, eine stärkere | |
Vorsicht im Sprechen über seine Sexualität – und größere Schwierigkeiten, | |
dem jüngeren Harry seine Zuneigung zu zeigen. | |
Hier ergründet Andrew Haigh die Geschichte schwuler Emanzipation, ihrer | |
Entwicklung über die Zeit hinweg, wohltuend feinsinnig. Während sich Harry | |
auch gegenüber seiner Familie längst offen als queer bezeichnet, hegt Adam | |
aufgrund Diskriminierungs- und Verlusterfahrungen während der Aids-Krise | |
einem vorsichtigeren Umgang mit seiner Homosexualität. | |
## Generationenunterschiede als Gesten | |
Andrew Scott („Fleabag“) und [3][Paul Mescal („Aftersun“)] transportier… | |
einen Großteil der Generationsunterschiede, die zwischen ihren beiden | |
Figuren existieren, die Differenzen in ihrer Selbstwahrnehmung als schwule | |
Männer, mit einnehmender Subtilität, über kaum merkliche Reaktionen, die | |
sich flüchtig im Gesicht des jeweiligen Gegenübers abzeichnen. Mehr als | |
alles andere aber über unauffällige Gesten, wie die zudringliche | |
Zärtlichkeit von Harrys Händen, auf die sich Adam nur zögerlich zu | |
reagieren traut. | |
Mit eindrücklicher Unaufgeregtheit erzählt Andrew Haigh so gleichsam von | |
etwas Tröstlicherem als einer Hoffnung auf eine Absolution, die niemals | |
kommen wird: vom Verbindenden im Fremdsein. Eine Erfahrung, die Harry und | |
Adam bei allem, was sich seither in der Gesellschaft getan haben mag, | |
dennoch miteinander teilen. | |
So schließt „All of Us Strangers“ in einer finalen Wendung doch noch mit | |
einer Mahnung, die sich mehr an die Lebenden denn an die Toten richtet: Wer | |
nicht in den Abgrund gerissen werden will, muss seinen Blick irgendwann von | |
ihm abwenden und Vertrauen in den Notsteg haben. Und, wie gesagt: Das mag | |
man als rührselig empfinden oder sich schlicht tief berührt fühlen. So aber | |
entlässt Andrew Haigh am Ende doch noch mit einer Aussicht, die nun | |
immerhin im Bereich des Möglichen liegt. | |
10 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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