# taz.de -- Theaterstück zu Leben mit Homosexualität: Im Gefängnis des Norma… | |
> Von homosexueller Selbstverleugnung handelt das Stück „Tom auf dem | |
> Lande“. Das Stadttheater Bremerhaven bringt es etwas zu pathetisch. | |
Bild: Im Normalitätbunker: Tom auf dem Lande | |
BREMERHAVEN taz | Homosexualität ist immer noch ein großes Drama. In vielen | |
gesellschaftlichen Milieus ist sie nicht im jeweiligen Normenkanon | |
beheimatet und scheint Menschen in ihrem Selbstverständnis herauszufordern. | |
[1][Homosexuelle werden daher jeden Tag zu Opfern], „beleidigt, | |
ausgegrenzt, vergewaltigt, verspottet, gedemütigt, verletzt, geschlagen, | |
heruntergemacht, besudelt, isoliert, verhöhnt“. | |
Das schreibt der kanadische Dramatiker [2][Michel Marc Bouchard im Vorwort | |
zu seinem 2011 in Montreal uraufgeführten Schauspiel „Tom à la ferme“] | |
(„Tom auf dem Lande“). Um diese Behandlung zu vermeiden, heißt es da | |
weiter, lernten Homosexuelle noch vor dem Lieben – das Lügen, die | |
Selbstverleugnung. Keinen Deut weniger aktuell geworden ist all das, wenn | |
nun, 2024, Bouchards Stück am Stadttheater Bremerhaven zur Premiere kommt. | |
Ensemblemitglied Frank Auerbach inszeniert den Stoff | |
antidiskriminierungswillig mit vier Kolleg:innen. Der dafür notwendige | |
Normalitätsbunker ist auf der Bühne ein hinreichend trostloser | |
Wellblechverschlag. Den betritt Tom (Justus Henke) – als wäre er in einen | |
Horrorfilm gestoßen worden. | |
Mit Schreckensmimik und gehetztem Blick stellt er sich als parfümierter | |
Mitarbeiter einer Werbeagentur vor. Aus der nahen Großstadt ist Tom auf die | |
Farm der Familie seines kürzlich verstorbenen Freundes Guillaume gekommen, | |
um bei dessen Beerdigung dabei zu sein. Dort trifft er auf Guillaumes | |
Mutter Agathe (Isabel Zeumer), die nichts von der Homosexualität ihres | |
Sohnes weiß. | |
## Kampf um die Fassade | |
Und auf dessen Bruder Francis (Karsten Zinser), der mit aller Gewalt dafür | |
kämpft, dass das so bleibt: Es gilt, das konformistische Familienimage zu | |
retten, bloß niemanden zu verstören. [3][Heteronormativität] soll Sara | |
(Anna Caterina Fadda) simulieren, wurde sie doch extra von den Männern | |
engagiert, um die angebliche Freundin des Verstorbenen zu mimen. | |
Dramatisch eindrücklich macht der Autor die nun folgenden Lügengeschichten | |
erlebbar. Henkes Tom steht immer etwas unbeholfen schräg in der ländlichen | |
Fremde und denkt wie ein urbaner Poet in Richtung Publikum, was er von der | |
Situation gerade hält. Er reflektiert sein Verhalten, spricht über Trauer | |
und Einsamkeit, hechelt auch mal Erinnerungen an Sex mit seinem Freund – | |
und wechselt immer wieder zu den Worten, die er gegenüber Francis und | |
Agathe tatsächlich äußert. | |
Höflich verlogen in Sachen schwules Leben: Bald bindet Tom sich einen | |
schäbigen Schlips um, so wie Francis einen trägt; ganz konkret und | |
symbolisch bringt der Binder ihn beinahe zum Ersticken – in der von | |
Bigotterie befeuerten Schuldgemengelage dieses Stücks. | |
Aber die beiden Männer kommen sich näher – in der kruden Abhängigkeit einer | |
SM-Beziehung. Zinser spielt Francis als schmierhaarig-virilen Brutalo mit | |
herausfordernd offenem Mund und sonorer Stimme, schwingt den | |
aggressionsgeschwollen hochgereckten Körper hin und her, hat immer einen | |
Faustschlag oder Würgegriff in petto und erwähnt mit Ekel die | |
Männerzeichnungen, die sein Bruder hinterließ. | |
Francis ist der härteste Homophobiker weit und breit, weil er eben selbst | |
verklemmt schwul ist: so die ihrerseits etwas klischeehafte | |
Enthüllungsgeschichte. Jedenfalls schwärmt der Junge vom Lande von jenem | |
aus der Stadt, den er „Mädchentaille“ ruft, als er ihn zärtlich Kühe mel… | |
sieht. | |
Francis setzt Tom aber auch immer wieder körperlicher Gewalt aus, | |
Demütigung und Machtdemonstration, was dieser genauso genießt wie die | |
Hilfsarbeiten auf dem Hof. Ach, das einfache, das wahre Leben! Schon tanzen | |
beide miteinander, starren sich an – und Kuss. | |
Francis und Tom sind exzessiv aufgepumpt mit Wut, Hass, Liebe, Ängsten, | |
Schmerz und so weiter, sodass sie sich emotionstosend auf jedes Wort ihres | |
Textes stürzen. Das Ergebnis sieht manchmal aus wie eine Parodie des Method | |
Acting der 1950er-Jahre, denken wir an Marlon Brando in „A streetcar namend | |
desire“. Für die Momente, in denen ihnen die Fasson komplett verloren geht, | |
hat die Requisite acht Autoreifen auf die Bühne gelegt, die | |
herumgeschleudert werden dürfen. | |
Erstaunlich ist, wie wenig nur sich die Erotik der Anziehung, das | |
flackernde Begehren zwischen den beiden Mannsbildern im Unterhemd | |
vermittelt. Im Gegensatz zu ihnen beeindruckt Zeumers Agathe durch die | |
zärtliche Melancholie ihrer Zurückhaltung: Leise verträumt, auch schon mal | |
am Rande des Dementen, sucht sie nach Wahrheit – und, vielfach ratlos, den | |
richtigen Gefühlen für ihr Bemühen, sich den Konventionen entsprechend zu | |
verhalten. | |
Bis Tom dann die Schnauze voll hat vom Versteckspiel mit seiner Identität | |
im Gefängnis des normierten Lebens: Er reißt die Wände des Bühnenbilds aus | |
ihrer Verankerung. Homosexualität ist ein Drama – in Bremerhaven ein arg | |
pathetisches. | |
Weitere Vorstellungen: 29. 2.; 8. + 13. 3.; 12. + 26. 4.; 2. 5., | |
[4][Stadttheater Bremerhaven] | |
1 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Queerfeindliche-Angriffe-in-Berlin/!5988883 | |
[2] /Kinostart-von-Sag-nicht-wer-du-bist/!5035085 | |
[3] /Selbstbestimmungsgesetz/!5965211 | |
[4] https://stadttheaterbremerhaven.de/startseite/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Theater Bremerhaven | |
Theater | |
Homosexualität | |
Heteronormativität | |
Landleben | |
Theater | |
Film | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Falk Richter über queeres Empowerment: „Fuck you! Ich mache, was ich will“ | |
In jungen Jahren musste Falk Richter verstecken, dass er schwul ist. Heute | |
ist er ein gefragter Theatermacher, der sich mit Familie, Provinz und der | |
Neuen Rechten auseinandersetzt. | |
Film über homosexuelle Liebe: Vom Verbindenden im Fremdsein | |
Schwules Begehren, Einsamkeit und Sehnsucht nach Verbundenheit. Andrew | |
Haigh hat mit „All of Us Strangers“ ein sentimentales Melodram gedreht. | |
Keine Anfeindungen, keine blöden Fragen: Ein Safe Place | |
Im neuen „Lebensort Vielfalt“ in Berlin-Schöneberg sollen sich LGBTI* zu | |
Hause fühlen, auch wenn sie älter werden. Die Nachfrage ist riesig. |