# taz.de -- Selbstbestimmungsgesetz: Alice Schwarzer irrt | |
> Transidentität als Weg des geringeren Widerstands? Mitnichten. Es ist in | |
> Deutschland bis heute einfacher, schwul oder lesbisch zu sein als trans. | |
Bild: Gleichgeschlechtliche Brautpaare als Tortenfiguren | |
Wer einen anderen Mann mit Wolllust küsst, wird mit 60 Peitschenhieben | |
bestraft“. So steht es in Artikel 124 des iranischen Strafgesetzbuches. Was | |
hat das mit dem deutschen Selbstbestimmungsgesetz zu tun, das die | |
Bundesregierung plant und das es trans, inter und nonbinären Menschen | |
erleichtern soll, ihren amtlichen Geschlechtseintrag und Vornamen ändern zu | |
lassen? Nicht viel. [1][Wäre da nicht die These von Alice Schwarzer], dass | |
der Weg zur Transidentität heute ein Weg des geringeren Widerstands und das | |
Gesetz gefährlich sei. | |
Doch schauen wir genauer hin, was uns der Fall Iran zeigt. Das Land wirft | |
ein anderes Licht auf die These von Alice Schwarzer: Denn während im Iran | |
homosexuelle Handlungen verboten sind und Geschlechtsverkehr gar mit dem | |
Tod bestraft wird, ist Transidentität weitgehend akzeptiert. Bereits 1984 | |
erließ der damalige oberste Führer des Iran, Ajatollah Chomeini, eine Fatwa | |
für eine transsexuelle Frau, Maryam Khatoon Molkara, und erlaubte ihr eine | |
Geschlechtsangleichung. | |
Damit sollte Ordnung in die Geschlechterverhältnisse gebracht werden. Die | |
Fatwa wirkt bis heute nach. So werden Menschen mit „Gender-Dysphorie“ vom | |
Wehrdienst befreit oder erhalten eine befristete Freistellung. Wenn sie | |
sich jedoch nicht in ärztliche Behandlung begeben, erhalten sie einen | |
staatlich verordneten Termin bei einem Arzt oder vor Gericht, um sich | |
geschlechtsangleichenden Maßnahmen zu unterziehen. | |
Der Fall Iran zeigt, dass es Kontexte gibt, in denen Menschen die | |
Geschlechtsangleichung als Weg des geringsten Widerstands wählen können. | |
Alice Schwarzer behauptet, dies sei in Deutschland der Fall: Junge Menschen | |
würden lieber den Weg der Transition gehen, als schwul oder lesbisch zu | |
leben. Mädchen und Frauen würden sich nur deshalb als transgender | |
definieren, weil sie glauben, als Mann bessere Chancen zu haben, oder um | |
einer Homophobie zu entkommen – nach dem Motto: „Lieber ein Leben als | |
heterosexueller Mann als ein Leben als Lesbe“. | |
Doch dies hält einigen Fakten nicht stand: Erstens ist es in Deutschland | |
nach wie vor einfacher, schwul oder lesbisch zu leben als trans. Rechtlich | |
sind homosexuelle Menschen gleichgestellt, und gesellschaftlich ist | |
Homosexualität akzeptierter als Transgeschlechtlichkeit. Zweitens leben | |
viele trans Menschen nicht heterosexuell. Homosexuelles Begehren ist eine | |
sexuelle Orientierung für sich, und das ändert sich nach der Transition | |
manchmal gar nicht: Manche Menschen haben vorher lesbisch gelebt, | |
[2][danach stehen sie auf Männer]. | |
Die Transidentität als Ausweg aus einer verinnerlichten Homophobie ist auf | |
den zweiten Blick nicht sehr nahe an der Realität. Aber, so Schwarzer, | |
trans Menschen würden die Heteronormativität verfestigen, gegen die Schwule | |
und Lesben ein Jahrhundert lang gekämpft haben. Bei allem Respekt: Trans | |
Menschen sollten das Recht haben, [3][heterosexuell zu sein]. Sie sollten | |
sogar das Recht haben, normativ zu sein. Trans Menschen müssen nicht | |
subversiv sein. Trans Menschen können sich genauso nach Normalität sehnen | |
oder rebellisch sein wie alle anderen. | |
[4][Deniz Yücel kommentierte in der Welt die Entwicklung der LGBT-Rechte in | |
Deutschland] und bedauert, dass [5][das Selbstbestimmungsgesetz] ohne | |
Rücksicht auf Einwände durchgepeitscht werden solle. Ein Irrglaube: Das | |
Selbstbestimmungsgesetz ist nicht zu hastig eingeführt worden. | |
## Eine alte Debatte | |
„Das Transsexuellengesetz (TSG) ist fast 30 Jahre alt und entspricht nicht | |
dem Stand der Wissenschaft.“ Das Zitat stammt aus einem Gesetzentwurf der | |
grünen Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2010. Schon damals legte die | |
Opposition um den Abgeordneten Volker Beck einen Reformvorschlag auf den | |
Tisch, der das Transsexuellengesetz ersetzen sollte. Damals regierte das | |
Kabinett Merkel II. Bereits drei Jahre zuvor, im Kabinett Merkel I, hatten | |
die Grünen einen ähnlichen Entwurf eingebracht, der jedoch gescheitert war. | |
Damals wurde die öffentliche Diskussion nicht so breit geführt. Die Welt | |
war eine andere: Twitter steckte noch in den Kinderschuhen, soziale | |
Netzwerke überhaupt, Trans war kaum ein Thema, und nicht jeder hatte eine | |
Meinung dazu. | |
Klar ist: Das Selbstbestimmungsgesetz kommt eher im Schritt als im Galopp | |
voran. Ich stimmte Deniz Yücel zu, dass die bisherigen Reformen wichtige | |
Fortschritte in Richtung Gleichberechtigung und individuelle Freiheit | |
ermöglicht haben. Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass alle bisherigen | |
großen sexualpolitischen Reformen in Deutschland von einem breiten | |
gesellschaftlichen Konsens getragen worden sind. Viele der bisherigen | |
Reformen im Bereich geschlechtlicher und sexueller Vielfalt waren von | |
heftigen Kontroversen begleitet: die Ehe für alle, die eingetragene | |
Lebenspartnerschaft, die Aufhebung des Werbeverbots für Abtreibungen – all | |
diese Reformen wurden gegen den Widerstand großer Teile der Gesellschaft | |
und der Politik durchgesetzt. | |
## Konsens gab es nie | |
Gegen LGBT-Rechte gab es zahlreiche Demonstrationen, gegen Abtreibungen | |
protestieren regelmäßig sogenannte Lebensschützer auf der Straße: Es sind | |
vor allem konservative Christen und Mitglieder der AfD, die mittlerweile | |
zur zweitstärksten Partei in Deutschland aufgestiegen ist. Ein breiter | |
gesellschaftlicher Konsens? Weit gefehlt. Schon immer, so der Historiker | |
Benno Gammerl, habe es Kräfte gegeben, die sich mit den immer gleichen, | |
alten Argumenten gegen gesellschaftlichen Fortschritt gestemmt hätten: von | |
den Sittlichkeitsvereinen im Kaiserreich über die konservativen Parteien in | |
der Weimarer Republik, die CDU in den Nachkriegsjahren bis zu den rechten | |
Strömungen der Gegenwart. | |
Also, nein: Es ist nicht das erste Mal, dass in Deutschland eine | |
entscheidende Reform nicht im Konsens verabschiedet wird. Und nein, es sind | |
nicht die trans Menschen, die einen Kulturkampf anzetteln, sondern sie | |
haben bisher viel Mühe, Hartnäckigkeit und Geduld bewiesen. | |
24 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/kultur/alice-schwarzer-ueber-selbstbestimmungsgesetz… | |
[2] https://magazin.hiv/magazin/szene-community/zwei-geschlechter-sind-nicht-ge… | |
[3] https://www.iwwit.de/trans | |
[4] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus247052480/Selbstbestimmungsgeset… | |
[5] /Selbstbestimmungsgesetz-beschlossen/!5955715 | |
## AUTOREN | |
Jayrôme C. Robinet | |
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