| # taz.de -- Trans* Jugendliche: Alarmierende Beschlüsse | |
| > Die Bundesärztekammer fordert Beratungen für die Änderung des | |
| > Geschlechtseintrags. Und stößt damit auf heftige Kritik. | |
| Bild: „Protect Trans Kids“: Das fordern rund 300 Demonstrierende hier in Br… | |
| Mediziner*innen sagen, sie seien „schockiert“, Erziehungsberechtigte | |
| bezeichnen die Diskussion als „besorgniserregend“. Grund dafür sind in den | |
| vergangenen Wochen ausgetragene Kämpfe innerhalb der bundesweiten | |
| Ärzt*innenschaft zur gesundheitlichen Versorgung von trans* Kindern und | |
| Jugendlichen. | |
| Auf der jährlichen Hauptversammlung der Bundesärztekammer, dem Ärztetag, | |
| wurden im Mai zwei Anträge beschlossen, die die Persönlichkeitsrechte und | |
| Behandlungsstandards für trans* Kinder und Jugendliche betreffen. Einer | |
| davon zielt deutlich auf das im April vom Bundestag beschlossene | |
| Selbstbestimmungsgesetz für die Rechte von trans* Personen. | |
| In dem an die Bundesregierung gerichteten Antrag heißt es, unter 18-Jährige | |
| sollten nicht „ohne vorherige fachärztliche kinder- und | |
| jugendpsychiatrische Diagnostik und Beratung“ ihren Personenstand ändern | |
| dürfen. Genau das sieht das Gesetz aber vor: Menschen ab 14 Jahren können | |
| mit Zustimmung der Eltern ihren Geschlechtseintrag und Vornamen mit einer | |
| einfachen Erklärung beim Standesamt ändern. | |
| ## Ärzte wollen Leitlinie ändern, an der 7 Jahre gearbeitet wurde | |
| Beim zweiten Antrag geht es um eine neue Leitlinie zur Behandlung von | |
| Geschlechtsdysphorie, also dem Leiden, das entstehen kann, wenn das bei der | |
| Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit der Identität übereinstimmt. Die | |
| Leitlinie wird gerade fertiggestellt und soll die veraltete aus den 1990er | |
| Jahren ablösen, die trans* Identitäten noch als „Störung“ bezeichnet. | |
| Sieben Jahre lang haben 27 Fachgesellschaften daran gearbeitet und sich im | |
| März dieses Jahres auf einen Entwurf geeinigt. Zurzeit werden noch die | |
| Kommentare ausgewertet, die Fachgesellschaften dazu abgegeben haben. Dem | |
| Ergebnis griff der Ärztetag nun zuvor. Der Antrag wendet sich an den | |
| Bundestag und explizit gegen Kernelemente der neuen Richtlinie, etwa die | |
| Möglichkeit, Pubertätsblocker bei Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie | |
| einzusetzen. | |
| Bindend für Bundesregierung und Parlament sind die Beschlüsse nicht – doch | |
| Beschlüsse des Ärztetags, so etwas wie das Parlament der | |
| Ärzt*innenschaft, haben durchaus Gewicht. Gestellt wurden die Anträge | |
| von einer 7-köpfigen Gruppe aus Mecklenburg-Vorpommern. Sechs von ihnen | |
| kommen aus der Chirurgie oder der Allgemeinmedizin, nur einer gibt auf | |
| seiner Homepage an, Kinder und Jugendliche psychiatrisch zu behandeln. | |
| Beide Anträge wurden mehrheitlich angenommen, trotz vehementer Gegenrede, | |
| wie im Protokoll zu lesen ist. | |
| Expert*innen und Betroffene sind von der Entscheidung des Ärztetags | |
| alarmiert. Sie warnen, dass die fachliche Diskussion [1][politisch | |
| instrumentalisiert] werde. Am bereits beschlossenen Selbstbestimmungsgesetz | |
| wird der Beschluss zwar nichts mehr ändern. Dennoch warnen Expert*innen | |
| vor der Wirkung, die solche Aktionen auf die ohnehin erbitterte und | |
| polarisierte Debatte über Rechte von trans* Personen haben kann. So | |
| überschrieben konservative und rechte Medien gleich nach dem Ärztetag ihre | |
| Berichte mit Titeln wie „Harte Ärzte-Kritik am Selbstbestimmungsgesetz“. | |
| ## Beschlüsse der Ärztekammer „irreführend“ | |
| Das Jugendnetzwerk Lambda forderte den Bundesärztetag Anfang Juli dazu auf, | |
| beide Beschlüsse zurückzunehmen „und sich für die darin niedergeschriebene | |
| fälschliche Darstellung medizinischer und wissenschaftlicher Erkenntnis | |
| bezüglich (junger) trans* Menschen und die Argumentation auf Grundlage von | |
| Transfeindlichkeit und Adultismus zu entschuldigen“. Junge trans* Personen | |
| würden in den Beschlüssen pathologisiert, die Forderungen würden eine | |
| Verschlechterung des Status quo bedeuten. Der Begriff „Adultismus“ | |
| bezeichnet das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern | |
| sowie Jugendlichen. | |
| Auch Organisationen wie die Magnus-Hirschfeld-Stiftung haben sich gegen die | |
| Beschlüsse des Ärztetags gewehrt. Die Deutsche Gesellschaft für | |
| Sexualforschung forderte den Deutschen Ärztetag auf, „die Expertise der | |
| medizinischen Fachgesellschaften anzuerkennen“ und die Entwicklung der | |
| Leitlinie abzuwarten, „anstatt voreilige und irreführende Beschlüsse zu | |
| fassen, die das Wohl von trans Jugendlichen gefährden“. | |
| Elternverbände von LGBTQ-Kindern schickten mit der Deutschen Gesellschaft | |
| für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit (dgti) [2][einen Brief an den | |
| Präsidenten der Bundesärztekammer sowie an Gesundheitsminister Karl | |
| Lauterbach (SPD)]: Die Beschlüsse würden „die Gesundheitsversorgung unserer | |
| Kinder dramatisch“ gefährden, schreiben sie. „Wir vertrauen auf das Wissen | |
| unserer Kinder, wer sie sind, wir vertrauen auf [3][die Zusammenarbeit mit | |
| den] behandelnden Therapeut*innen, und wir vertrauen auf die enge | |
| Abstimmung mit den behandelnden Endokrinolog*innen“, heißt es im Brief | |
| weiter. „Wir erleben in diesem Setting keinerlei Leichtfertigkeit.“ | |
| Im Juni unterzeichneten zudem mehrere Hundert behandelnde Ärzt*innen und | |
| Therapeut*innen, Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen, Verbände und | |
| Einzelpersonen einen offenen Brief. Darin bemerken sie mit „Bestürzung“ | |
| eine Diskrepanz zwischen sämtlichen Behandlungsleitlinien, die von | |
| medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet wurden, und den Beschlüssen des | |
| Ärztetages. Diese seien unvereinbar mit den Empfehlungen des Deutschen | |
| Ethikrates und würden falsche Tatsachen verbreiten, etwa zur Wirkung von | |
| Pubertätsblockern. | |
| ## Experten halten Beschlüsse für „politisch motiviert“ | |
| Eine*r der Unterzeichner*innen ist Ulli Roth, Gynäkolog*in aus | |
| Berlin. Roth arbeitet in einer Klinik, in der geschlechtsangleichende | |
| Operationen durchgeführt werden. Die Anträge seien laut Roth „nicht aus | |
| medizinischer, wissenschaftlicher oder ethischer Motivation eingebracht“ | |
| worden, sondern politisch motiviert, sagt Roth der taz. Aus Roths Sicht | |
| werde „ein gesellschaftlicher Diskurs unter dem Deckmantel von | |
| medizinischen Empfehlungen geführt“, und zwar zulasten des Wohls von trans* | |
| Jugendlichen. | |
| Leitlinien legen den Behandlungsstandard bei einer bestimmten Diagnose fest | |
| und richten sich an behandelnde Expert*innen des jeweiligen Fachgebiets. | |
| Sie geben Ärzt*innen vor, was sie tun müssen, um gemäß neuestem | |
| medizinischem Standard richtig zu behandeln. Die finale Leitlinie zur | |
| Geschlechtsdysphorie bei trans* Kindern und Jugendlichen soll im September | |
| veröffentlicht werden. | |
| Dass dies geschieht, ist für Behandelnde wie Betroffene entscheidend: Wo in | |
| der veralteten Leitlinie aus den 1990er-Jahren noch von einer „Störung“ der | |
| Geschlechtsidentität die Rede war, gilt im neuen Entwurf allein die | |
| Geschlechtsdysphorie als „krankheitswertig“ – also das Leiden, das | |
| entstehen kann, wenn das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit | |
| der Identität übereinstimmt. Das entspricht auch internationalen | |
| Klassifizierungen wie der der Weltgesundheitsorganisation. | |
| Der Entwurf schlägt zudem vor, Pubertätsblocker grundsätzlich zu | |
| ermöglichen. Diese verschaffen Betroffenen einen Aufschub der Pubertät, | |
| also Zeit, um die richtige Behandlung auszuloten. Und die sei | |
| „hochspezialisiert“, sagt Roth, es gebe bundesweit nur wenige | |
| Expert*innen. „Aber die Medikamente sind seit Jahrzehnten auf dem Markt | |
| und werden auch für andere Indikationen eingesetzt. Das Spektrum an | |
| Nebenwirkungen ist durchaus bekannt“, sagt Roth. | |
| ## Pubertätsblocker könnten jungen Menschen mehr Zeit geben | |
| Der Ärztetag hat nun jedoch beschlossen, dass Pubertätsblocker, | |
| geschlechtsangleichende Hormontherapien und Operationen bei unter | |
| 18-Jährigen „nur im Rahmen kontrollierter wissenschaftlicher Studien“ | |
| erlaubt sein sollten. Als Begründung wird eine „Abwesenheit medizinischer | |
| Evidenz“ über die psychische Verbesserung des Leidens durch | |
| Pubertätsblocker angeführt. Außerdem seien Kinder und Jugendliche „nicht in | |
| der Lage“, über die Einnahme zu entscheiden. | |
| „Es gibt keine Abwesenheit medizinischer Evidenz“, sagt Andreas Heinz. Er | |
| ist Psychiater und Neurologe, Mitglied der Leopoldina und hat sich intensiv | |
| mit der Leitlinie beschäftigt. „Eine Pubertätsblockade allein macht nicht | |
| zufrieden, aber das ist auch gar nicht die Idee“, sagt Heinz. Er verweist | |
| auf eine aktuelle Auswertung bisheriger Studien, die zu dem Schluss kommt, | |
| dass zwar weiterhin robuste Forschung fehle. Allerdings gebe es durchaus | |
| Evidenz, dass sich die mentale Gesundheit während einer | |
| geschlechtsangleichenden Therapie verbessere. Die Deutsche Gesellschaft für | |
| Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit (dgti) betont, dass es besonders | |
| wichtig sei, die Suizidalität zu verringern. | |
| Auch aus Sicht von Andreas Heinz sind weitere Studien zwar wichtig, doch | |
| die aktuelle Debatte sei viel zu ungenau. Viele Gegner*innen der | |
| Leitlinie stellten pauschal die auch laut Bundesverfassungsgericht | |
| schützenswerten Begriffe wie den der geschlechtlichen Identität infrage. | |
| „Wir sind in der Fachwelt so viel weiter“, sagt die Psychotherapeutin | |
| Sabine Maur, Mitautorin der Leitlinie. „Es ist, als würden wir bei der | |
| Behandlung von Depressionen erst einmal darüber nachdenken, was Traurigkeit | |
| bedeutet“, sagt Maur. Sie verweist darauf, dass der Entwurf mit 95 Prozent | |
| Zustimmung von den beteiligten Fachgesellschaften angenommen wurde. Auch | |
| die Kommentare hielten sich sehr in Grenzen. „Wir haben nach dem Wirbel um | |
| den Ärztetag gedacht, es wird viel heikler.“ Der Zugang zu | |
| Pubertätsblockern nur über Studien sei aber nicht akzeptabel. „Ein Zwang, | |
| an Studien teilzunehmen, ist medizinethisch nicht vertretbar“, sagt Maur. | |
| Eine wirkliche Gefahr für die Leitlinie gehe von den Beschlüssen des | |
| Ärztetags nicht aus, sagt Sabine Maur. Dennoch ist nicht nur sie über die | |
| Vorgänge beunruhigt. „Was eigentlich ein rein fachlicher Austausch sein | |
| sollte, wird benutzt, um [4][die Debatte über Geschlecht und trans* Rechte | |
| zu politisieren]“, sagt Gynakolog*in Ulli Roth. „Um die bestmögliche | |
| Therapie für trans* Jugendliche geht es dabei nicht.“ | |
| 2 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Homopolitik-der-AfD/!6022333 | |
| [2] https://dgti.org/wp-content/uploads/2024/06/dgti_Unterschriftenaktion_offen… | |
| [3] /Die-queere-Szene-am-Stadtrand-waechst/!6024016 | |
| [4] /Mehr-Schutz-fuer-Queers/!5999797 | |
| ## AUTOREN | |
| Antonia Groß | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt LGBTQIA | |
| Selbstbestimmung | |
| Gender | |
| Bundesärztekammer | |
| Social-Auswahl | |
| Das Leben einer Frau | |
| Selbstbestimmung | |
| Schwerpunkt LGBTQIA | |
| Transgender | |
| Trans | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Geschlechtsidentität: Stoptaste für die Pubertät | |
| Pubertätsblocker sind umstritten – aber wie funktionieren die Medikamente | |
| eigentlich, und welche Folgen haben sie für Kinder und Jugendliche? | |
| Namenswahl bei neuem Geschlechtseintrag: Nur so semi selbstbestimmt | |
| Das Selbstbestimmungsgesetz sollte trans Menschen ermächtigen, Geschlecht | |
| und Namen selbst zu wählen. Viele Standesämter legen das Gesetz anders aus. | |
| Hass gegen Queers in der EU: Mehr Gewalt und Drohungen | |
| Eine neue EU-Umfrage findet heraus, dass Angriffe gegen queere Menschen | |
| zunehmen. Besonders betroffen sind Menschen in Deutschland sowie an | |
| Schulen. | |
| Umgang mit Trans* Menschen: Leitlinie für weniger Leid | |
| Eine neue Leitlinie soll künftig eine bessere Versorgung von trans* | |
| Menschen sicherstellen. Streit gibt es über Pubertätsblocker. | |
| Selbstbestimmungsgesetz: Alice Schwarzer irrt | |
| Transidentität als Weg des geringeren Widerstands? Mitnichten. Es ist in | |
| Deutschland bis heute einfacher, schwul oder lesbisch zu sein als trans. |