# taz.de -- Regisseur Koreeda über Kindheit: „Die geheime Welt ist verschwun… | |
> Hirokazu Koreeda erzählt im Film „Die Unschuld“ von der Freundschaft | |
> zweier Jungen in Japan. Es geht ums Anderssein und um Gruppenzwang. | |
Bild: Auf dem Weg zu ihrem Safe Space: Yori (Hinata Hiiragi) und Minato (Soya K… | |
Nach zwei filmischen Ausflügen in die Ferne, „La Verité“ spielte in Paris, | |
[1][„Broker“ in Südkorea], kehrt der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda | |
mit „Die Unschuld“ in seine Heimat zurück. Aus unterschiedlichen | |
Perspektiven erzählt der 61-Jährige darin von den Mysterien einer Kindheit, | |
dysfunktionalen Familienbanden und sozialen Konventionen. Im Zentrum stehen | |
zwei Jungs, deren Verhalten und intime Freundschaft für Verwirrungen | |
sorgen. Die Geschichte stammt ausnahmsweise nicht von Koreeda selbst, | |
sondern von Yūji Sakamoto, der dafür in Cannes den Drehbuchpreis erhielt. | |
taz: Herr Koreeda, „Die Unschuld“ ist der erste Spielfilm seit Ihrem Debüt | |
„Maboroshi – Das Licht der Illusion“ von 1995, zum dem Sie nicht selbst d… | |
Drehbuch geschrieben haben. Wie kam es dazu? | |
Hirokazu Koreeda: Yūji Sakamotos Arbeit beobachte ich seit fünfzehn Jahren | |
aus der Ferne. Wir beschäftigen uns beide mit der Art und Weise, wie | |
Familie Menschen gefangen hält, vor allem Kinder, weil sie am | |
verletzlichsten sind, und anderseits mit Wahlfamilien, die sich außerhalb | |
der Blutsbande bilden. Als Yūji für die Verfilmung seines Drehbuchs meinen | |
Namen als Regisseur nannte, sagte ich zu, ohne auch nur eine Zeile gelesen | |
zu haben. | |
Im Zentrum steht die Freundschaft zweier 11-jähriger Jungen, die intim und | |
zärtlich ist, ohne klar als schwule Liebesgeschichte benannt zu werden. Wie | |
haben Sie sich diesem sensiblen Thema genähert? | |
Unter anderem habe ich mit einer Organisation gesprochen, die sich für | |
LGBTQ+-Kinder einsetzt, um zu verstehen, inwieweit sich ein Junge in dem | |
Alter seiner eigenen Sexualität bewusst ist. Würde er sich selbst bereits | |
etwa als schwul oder queer bezeichnen? Minato und Yori leben ihre | |
aufkeimende Zuneigung in völliger Unschuld. Es ist die Gesellschaft, die | |
sie zwingt, sich zu hinterfragen. | |
Minato glaubt, seine Zuneigung könnte etwas Falsches sein, weil seine | |
Mutter sich wünscht, dass er ein würdiger Sohn für seinen verstorbenen | |
Vater ist. Auch die Lehrerin ermutigt ihn, gängigen Vorstellungen von | |
Männlichkeit zu entsprechen. Die Erwachsenen geben ihm das Gefühl, mit | |
seinen Gefühlen für Yori nicht „normal“ zu sein. | |
Wie ihm geht es vielen Kindern in Japan. Weil es immer noch Menschen gibt, | |
die glauben, dass Anderssein korrigiert werden muss. Es steht nicht so sehr | |
die sexuelle Orientierung im Vordergrund, sondern vielmehr die damit | |
verbundenen Vorurteile. | |
Inwieweit verändert sich die Arbeit mit einem fremden Drehbuch? | |
Zwischen dem Lesen und dem Filmdreh sind etliche Jahre vergangen, auch | |
wegen des Lockdowns. In der Zeit arbeiteten wir gemeinsam weiter am | |
Drehbuch, ich machte es mir Schritt für Schritt zu eigen. Für die Struktur | |
der verschiedenen Perspektiven habe ich mich dabei stark an Akira Kurosawas | |
„Rashomon“ orientiert. Und ich las Bücher über seine Art zu schreiben und | |
mit anderen Drehbuchautoren zusammenzuarbeiten, auch daraus habe ich viel | |
gelernt. | |
Wichtig war dann, den Ort zu finden, an dem die Geschichte spielen sollte. | |
Wir entschieden uns für Nagano, eine Stadt in einer Bergregion auf der | |
Insel Honshû. Erst wenn ich die Orte kenne, kann ich wirklich präzise | |
werden, auch wenn die Erzählstruktur vertrackt wirkt. Bei den Dreharbeiten | |
selbst habe ich dann weniger gehadert als bei früheren Filmen, es herrschte | |
größere Klarheit. | |
In Deutschland kommt Ihr Film nun unter dem Titel „Die Unschuld“ ins Kino, | |
der [2][internationale Titel Ihres Films lautet aber „Monster“]. | |
Wenn man vom Japanischen ins Englische wechselt, verschiebt sich bereits | |
die Bedeutung. „Monster“ erinnert an eine Kreatur mit sehr definierten | |
Formen. Der japanische Titel, „Kaibutsu“, bezieht sich auf etwas | |
Ungeheuerliches, das sich der Vernunft entzieht, es ist eher eine negative | |
Kraft als ein greifbares Monster. Für die Mutter der Familie ist das | |
Monster die Schule. Für die Schule ist es die Mutter. Für den Jungen, dem | |
seine Andersartigkeit zur Last gelegt wird, ist das Monster in seinem | |
Inneren. | |
Sie selbst wuchsen in einfachen Verhältnissen auf, die japanische | |
Gesellschaft war in den 1960er Jahren noch deutlich traditioneller. Wie | |
unterscheidet sich eine Kindheit heute von Ihrer damals? | |
Ich glaube, was es schon immer gab, ist dieser Gruppenzwang, wie alle | |
anderen sein zu müssen. Es prägt das Leben der Erwachsenen und ist längst | |
auch in den Alltag der Kinder eingesickert. Das hat sich seit damals nicht | |
groß geändert. Heute gibt es nur sehr viel weniger Kinder. Und deren Leben | |
ist deutlich unfreier, weil sie unter ständiger Beobachtung ihrer besorgten | |
Eltern stehen. | |
Diese geheime Welt, die für Erwachsene unsichtbar oder nicht zugänglich | |
war, ist verschwunden. Früher war es bei drei Kindern in einer Familie | |
nicht so schlimm, wenn eines von ihnen ein bisschen seltsam war. Aber jetzt | |
haben japanische Paare meist nur noch ein Kind, wenn überhaupt. Und dieses | |
Einzelkind ist dann das alleinige Ziel der Erwartungen und der Aufsicht der | |
Eltern. | |
Die Jungs spielen in einen verlassenen Eisenbahnwagen, den sie zum | |
Geheimversteck ausbauen. Heute würde man es wohl Safe Space nennen. Hatten | |
Sie so etwas als Kind? | |
Das hatte ich tatsächlich. Neben unserem Haus waren Felder, in denen die | |
Kinder der Nachbarschaft rumrennen konnten. Aber dann wurde das Gelände | |
zubetoniert und zum Schrottplatz gemacht. Dort standen und lagen bald | |
Dutzende Autowracks herum. Meine Familie besaß keinen Wagen, dazu fehlte | |
das Geld. | |
Als Junge suchte ich mir ein Auto auf dem Schrottplatz aus, dessen Türen | |
nicht verschlossen waren. Im Inneren fand ich alle möglichen Sachen, im | |
Handschuhfach etwa, die der Besitzer zurückgelassen hatte. Ich konnte | |
Stunden dort verbringen. | |
Nach und nach brachte ich dann meine eigenen Schätze von zu Hause dorthin, | |
meine Teddybären und anderes Spielzeug, das mir viel bedeutete, und machte | |
aus der Schrottkarre meine kleine Burg. Deswegen erinnerten mich die beiden | |
Jungs, die das alte Zugabteil dekorieren, sehr an mein eigenes Aufwachsen. | |
Sie haben in Ihren Filmen immer wieder Kinder und Jugendliche besetzt. | |
Inwieweit war die Arbeit diesmal anders? | |
Üblicherweise gebe ich den Kinderdarstellern kein Drehbuch. Ich gebe ihnen | |
den Dialog erst am Set. Normalerweise schreibe ich das Drehbuch nämlich so, | |
dass es zu dem Kinderdarsteller passt. Ich gehe auf ihre Persönlichkeit und | |
ihr Temperament ein, sodass die Figuren, die sie spielen, am Ende ziemlich | |
nah an ihnen dran sind. | |
In diesem Fall gibt es aber ein Maß an innerem Konflikt und psychologischem | |
Druck, dass ich das nicht tun konnte. Also sprach ich mit ihnen alles durch | |
und wir haben ihre Figuren zusammen erschaffen. Am Set war die Atmosphäre | |
jedoch wie sonst auch. Ich habe versucht, es so zu gestalten, dass sie Spaß | |
am Schauspielen haben und sich darauf freuen, am nächsten Tag | |
wiederzukommen. | |
Sie haben Ihren Film dem [3][Komponisten Ryūichi Sakamoto] gewidmet, der am | |
28. März vor einem Jahr einem Krebsleiden erlag. Der Soundtrack zu „Die | |
Unschuld“ ist nun sein Abschiedswerk geworden. | |
Hätte er die Arbeit nicht mehr vollenden können, hätte ich gar keine Musik | |
verwendet, sondern nur die Geräusche, die wir während der Dreharbeiten | |
einfangen konnten: den Wind, den Fluss, den Regen. Die Kraft von Ryūichis | |
Kompositionen ist für den Film unersetzlich. | |
20 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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