# taz.de -- Regisseurin Sciamma über Banlieue-Film: „Wir müssen furchtlos s… | |
> „Bande de filles“ erzählt von einer jungen Frau aus der Pariser Vorstadt. | |
> Regisseurin Céline Sciamma findet, dass Angst die falsche Antwort auf die | |
> Attentate ist. | |
Bild: Ausgelassener Tanz zu Rihannas „Diamonds“: Hauptfigur Marième (Karid… | |
Céline Sciamma steht neben dem geöffneten Fenster des Hotelzimmers und hält | |
eine Zigarette nach draußen. Ab und zu zieht sie daran, wobei sie sich aus | |
dem Fenster lehnt. Es ist Mitte Januar, und während die Polizei im Marais | |
oder vor dem Mémorial de la Shoah allgegenwärtig und schwer bewaffnet ist, | |
ist hier, in Blickweite der Pariser Oper, alles wie immer. Der | |
Schlussverkauf ist in vollem Gange, die Touristen tragen Einkaufstüten über | |
die Boulevards, die goldenen Statuen auf dem Dach der Oper leuchten in der | |
Wintersonne. Nur an den Kiosken erinnern die Schilder, die bekanntgeben, | |
dass Charlie Hebdo ausverkauft sei, daran, dass etwas vorgefallen ist. | |
[1][„Bande de filles“], Sciammas Film, spielt in der Banlieue. Er handelt | |
nicht von jungen Männern, die Fanatiker werden, sondern von einer jungen | |
Frau namens Marième (Karidja Touré), die sich gegen viele Widrigkeiten zu | |
behaupten versucht. Den etwas schematischen Plot lassen Stilbewusstsein und | |
Schubkraft von „Bande de filles“ rasch vergessen. | |
taz: Frau Sciamma, welche Vorstellung hatten Sie von der Banlieue, bevor | |
Sie begannen, an „Bande de filles“ zu arbeiten? | |
Céline Sciamma: Meine Kindheits- und Jugenderinnerungen. Ich bin zwar nicht | |
in einer der ganz harten Banlieues aufgewachsen, aber auch nicht in einer | |
bürgerlichen. Und ich kenne die Räume, die Gebäude, die Architektur, ich | |
weiß, wie es sich anfühlt, dort rumzulaufen. Ich konnte Paris aus dem | |
Fenster sehen, aber fühlte mich sehr weit weg, so, als gehörte ich nicht | |
dazu. | |
Warum ist das so? | |
Es ist weit weg. Es kostet zehn Euro, wenn man nach Paris fährt. | |
Viel Geld, wenn man 14 ist. | |
Ich bin dreimal im Jahr nach Paris gefahren. Für mich ist die Banlieue kein | |
exotischer Ort, den ich hätte erobern müssen. Ich dachte auch nicht, dass | |
die Figuren nichts mit mir zu tun hätten. Ich bin keine kalte Soziologin. | |
Das Projekt des Films besteht im Wesentlichen darin, dass es um eine junge | |
Frau heute geht: eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Diese junge Frau | |
möchte ihr eigenes Begehren erkunden, möchte sich aussuchen, wen sie liebt, | |
möchte frei sein. Deshalb muss sie sich mit dem Ort, an dem sie lebt, und | |
mit ihrer Familie auseinandersetzen. Das ist Jane Austen, das ist Jane | |
Campion, das ist „Bande de filles“. | |
Ihr Film sieht aus, als hätten Sie sich intensiv mit Stilfragen | |
beschäftigt, mit den Kostümen und den moves. Wie haben Sie sich darauf | |
vorbereitet? | |
Ich bin die Kostümdesignerin. Wenn ich die Schauspielerinnen ausstatte, | |
dann lernen wir uns dabei nicht nur besser kennen, es gehört auch zur | |
Arbeit an der Figur. Und es wird Teil des Bildes. Wenn man vom Filmbild | |
spricht, denkt man ja fast immer an die Kameraarbeit, und klar, die spielt | |
eine Rolle, es gibt eine markante Lichtsetzung. Aber es geht auch um die | |
Farben, von Wänden, von Kleidungsstücken. Es gibt ja ein Set an | |
Zuschreibungen, wie so ein Film aussehen soll: Wackelkamera, graue | |
Anmutung, das ist die Fantasie, die man von der Banlieue hat. | |
Dieser Fantasie haben Sie sich bewusst entzogen? | |
Ich wollte alle Mittel des Kinos verwenden. Musik, Farben, Stilisierung, | |
Travelings, Cinemascope, statische Kamera, sorgfältig komponierte | |
Einstellungen. Vielleicht sind das Lügen, aber das heißt nicht, dass man | |
mit ihnen nicht die Wahrheit sagen könnte. | |
Warum ändert die Hauptfigur Marième ihr Aussehen, ihre Kleidung und ihre | |
Frisur so oft? | |
Sie nimmt verschiedene Identitäten an, und dabei helfen ihr die Kostüme. | |
Wie bei einem Superhelden, der sich fragt: Welches Outfit verleiht mir | |
welche Fähigkeit? Es ist auch ein Weg, den Wechsel ihrer Seelenzustände zu | |
verkörpern und den Umstand, dass ein Teenager einen Entwurf von sich selbst | |
entwickelt, der mit Outfit und Haltung einhergeht. Dadurch kann man auch | |
eine andere Seite von sich selbst entdecken, oder man kann sich dahinter | |
verstecken. Ich mag diese Dialektik, die im Kostüm steckt. | |
Einerseits sind die Anmut und die Schönheit der Figuren toll, etwa [2][wenn | |
sie in einem Hotelzimmer zu „Diamonds“ von Rihanna tanzen]. Andererseits | |
gibt es ja eine Tendenz, genau diese Anmut zu fetischisieren. Was die | |
Jugendlichen aus der Banlieue dann wieder auf eine bestimmte Rolle | |
festlegt. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht? | |
Natürlich! Während des Castings habe ich 300 Mädchen getroffen, die meisten | |
nach dem Zufallsprinzip, auf der Straße. Ich habe sie mir genau angeschaut, | |
und ich glaube, was man im Film sieht, kommt diesem Eindruck sehr nahe. Wie | |
sie tanzen … Die Choreografie habe nicht ich entwickelt; die haben sie | |
mitgebracht. Und die Kleider – da kostet eins zehn Euro. Das ist das Schöne | |
an H&M, Leute können glamourös sein, ohne Geld auszugeben. Und sie | |
verwenden viel Mühe darauf. Für sie ist es sehr wichtig, wie sie aussehen. | |
Sie würden sagen: Es geht nicht um Exotismus, sondern darum, dass die | |
Darstellerinnen ihre eigenen Fantasien ausagieren? | |
Ich denke schon. Die Szene im Hotel, mit dem Song von Rihanna, ist eine | |
Schlüsselszene. So wollen sie gesehen werden, so wollen sie Divas spielen. | |
Und dann werden sie wieder Kinder, die auf dem Bett auf und ab hüpfen, | |
herumschreien und sich nicht darum kümmern, wie sie aussehen und wie sie | |
auf eine Kamera wirken würden, wenn ein Clip von ihnen gedreht würde. In | |
diesem Paradox stecken die Figuren ständig. Ihre Welt ist eine Bühne. Zu | |
Hause müssen sie sich benehmen. Die Straßen sind ein Theater. Einen Ort für | |
Privatheit haben sie nicht. Also mieten sie ihn. | |
Es ist interessant, weil sie sich herausputzen, dann aber das Hotelzimmer | |
nicht verlassen. | |
Alle denken, sie ziehen weiter in einen Club, und dann bleiben sie im | |
Zimmer. | |
Warum müssen sie denn die ganze Zeit performen? | |
Dazu sind wir doch alle aufgerufen. Auch die Jungs im Film müssen ständig | |
performen. Sie haben die Verantwortung für die Familie, für deren Ansehen, | |
sie müssen brutal sein, sonst kommen sie als schwächlich rüber. Teenager | |
sein heißt, dass man die meiste Zeit performt. Man weiß ja auch noch gar | |
nicht, wer man ist. Und für die jungen Frauen kommt hinzu, dass der Raum | |
nicht für sie gedacht ist. | |
Am Anfang wird das sehr deutlich: Erst die energiegeladenen Aufnahmen der | |
beiden Teams auf dem Sportplatz, dann der Heimweg, über die Freiflächen und | |
die Gänge zwischen den Wohnblöcken. Die Gruppe wird immer kleiner, Einzelne | |
biegen nach links und rechts ab, bis am Ende nur Marième übrig ist. | |
Ich wollte eine Gegend ohne Autos. Nur mit Fußgängern. Wie eine Insel, zur | |
Welt hin offen – man kann den Eiffelturm ein paar Mal im Hintergrund sehen | |
–, mit einem Horizont, aber doch auch wie ein geschlossener Raum. Ein | |
mentaler Raum, und die erste Sequenz fasst das zusammen: Man sieht all | |
diese Mädchen, wie sie gemeinsam stark sind, es gibt die Gewalt, die | |
Lautstärke. Aber wenn sie nach Hause gehen, ist da plötzlich eine Grenze. | |
Es wird von ihnen erwartet, dass sie verstummen. Und sie tun’s, ohne es zu | |
merken. | |
Das ist ja ein wichtiger Kontrast für die Figuren: Einerseits sind sie | |
stark und aggressiv, auch körperlich, sie prügeln sich, dann wieder sind | |
sie unsicher und fühlen sich in ihrem Körper nicht wohl. | |
Ich habe ja eben schon von stilistischen Zuschreibungen gesprochen, über so | |
eine Art von Vorstadt-Folklore, mit Wackelkamera und so weiter. Das gibt es | |
auch für die Anlage der Figuren, die haben dann nur eine einzige Energie, | |
sind also laut und stark. Ich wollte aus diesen Zuschreibungen heraustreten | |
und dafür sorgen, dass sich die Figuren entfalten können. Natürlich sind | |
sie stark, das heißt aber nicht, dass sie nicht auch still und schüchtern | |
sein können. | |
Seit den Attentaten auf den jüdischen Supermarkt und auf Charlie Hebdo | |
scheint sich in Frankreich jäh eine Erkenntnis durchzusetzen, nämlich dass | |
die Banlieue radikal vernachlässigt wurde. Das hätte man schon früher | |
wissen können, oder? | |
Tat man auch. Und hat es wieder vergessen. Das war nach den Ausschreitungen | |
von 2005 so und bei Mohamed Merah 2011 wieder. Damals konnten wir es | |
eingrenzen, das Ausmaß war nicht so gewaltig wie jetzt. Und wir haben eine | |
linke Regierung, die anders reagieren kann als 2005. Vielleicht liegt darin | |
sogar eine Chance. Wenn die Antwort der Politik darin besteht, das Budget | |
für die Bekämpfung des Terrorismus zu verdoppeln, sind wir verdammt. Aber | |
wenn der Bildungsetat verdoppelt wird, kommt vielleicht etwas Gutes heraus. | |
Im Augenblick sieht alles sehr verhärtet aus. | |
Das ist es. Und sehr emotionsgeladen, so dass es schwierig ist, in Ruhe | |
darüber nachzudenken. Damit fangen wir gerade erst an. Und es gibt eine | |
neue Angst, die Angst vor der Islamophobie. Aus dem Terror wächst die | |
Angst. Aber wir müssen furchtlos sein. Solange wir Angst haben, wird sich | |
nichts zum Guten wenden. | |
26 Feb 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.youtube.com/watch?v=V1DvYb4Q4Lg | |
[2] http://www.bonus-track.com/pubs/unebandedefilles_rihanna/unebandedefilles_r… | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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