# taz.de -- Nach den Anschlägen in Dänemark: Trotziger Frieden | |
> Die Anschläge haben die Selbstzufriedenheit der Dänen erschüttert. | |
> Zehntausende Menschen kommen mit Fackeln zum Gedenken an die Ermordeten. | |
Bild: Dieser Däne beharrt auf Meinungsfreiheit. Doch es ist etwas faul im Staa… | |
KOPENHAGEN taz | Gelassen gibt sich Kopenhagen in diesen Tagen nach dem | |
brutalen Doppelanschlag, dem am Wochenende zwei Menschen zum Opfer gefallen | |
sind. Die Polizei tritt, wenn überhaupt, so wenig martialisch wie überhaupt | |
nur möglich in Erscheinung. Und doch sind Eruptionen plötzlicher Aktivität | |
jederzeit möglich. | |
So auch in der Nacht auf Dienstag, als Polizeieinheiten in der Gegend um | |
den Mjølnerparken im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro einen weiteren | |
Verdächtigen jagen. Die Behörden vermeiden es zwar, von einem Netzwerk zu | |
sprechen, ermittelt wird jedoch offenbar gegen einen größeren | |
Personenkreis, die dem Attentäter geholfen haben sollen. Zwei weitere junge | |
Männer befinden sich seit Montag in Untersuchungshaft. Sie werden | |
verdächtigt, die Tatwaffe beschafft zu haben. | |
Keine 20 Minuten mit dem Bus vom Stadtzentrum entfernt sind die rot | |
geklinkerten Sozialbauten rund um den Mjølnerparken ein Symbol für die | |
Abspaltung einer sozial und nicht selten rassistisch diskriminierte | |
Minderheit in der dänischen Gesellschaft. Fast alle Bewohner des Blocks | |
haben familiäre Wurzeln außerhalb Dänemarks. In ganz Nørrebro machen | |
Einwanderer und deren Nachkommen knapp ein Drittel der Einwohner aus. Die | |
meisten kommen aus dem Nahen Osten, der Türkei und Pakistan, viele von | |
ihnen identifizieren sich als Muslime. | |
Trotz aller Versuche in den vergangenen Jahrzehnten, durch städtebauliche | |
Maßnahmen den multikulturellen Charakter des Viertels positiv | |
herauszustellen, steht Nørrebro weiterhin im Ruf, ein sozialer Brennpunkt | |
zu sein. Die dänische Presse greift immer wieder Geschichten über | |
Jugendgewalt auf. Im Gegenzug wird von den Bewohnern eine rassistische | |
Polizeipraxis beklagt. | |
Diese schon räumliche Abtrennung ganzer Bevölkerungsgruppen von der Mitte | |
der Gesellschaft sieht Benjamin Abtan als Symptom des tieferliegenden und | |
für die europäischen Metropolen typischen Problems. Als Gast war Abtan, der | |
Präsident des europäischen Dachverbandes antirassistischer Initiativen, am | |
Montag gemeinsam mit der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo und dem | |
Charlie-Hebdo-Kolumnisten Patrick Pelloux auf der Gedenkkundgebung am Ort | |
des ersten Anschlags am Kulturcafé Krudttønden. Übersetzt heißt das | |
ausgerechnet „Pulverfass“. | |
## Selbstvergewisserung einer Gesellschaft | |
Ähnlich wie in Paris sieht Abtan nun auch in Kopenhagen eine Kundgebung der | |
weißen, bürgerlichen Mitte. Diese Form der Selbstvergewisserung einer | |
Gesellschaft, die nicht zur Kenntnis nehmen wolle, dass sie sich in den | |
vergangenen Jahrzehnten unwiederbringlich verändert habe, werde ein Problem | |
nicht lösen können, sagt Benjamin Abtan: dass sie Jugendlichen mit | |
Migrationshintergrund keine visionäre Erzählung, keine Zukunft anbieten | |
könne, die der Gewalt und dem Hass den Boden entzögen. | |
Tatsächlich wirkt die selbstsichere Ruhe und demonstrative Gelassenheit der | |
Stadt fast schon trotzig. Ein Ort, an dem das Geschehen präsenter ist, ist | |
jener für den Verkehr gesperrte Abschnitt auf der schmalen Krystalgade, wo | |
Dan Uzan, ein Freiwilliger des Wachdienstes in der Nacht auf Sonntag vor | |
der Synagoge erschossen worden ist. Unzählige Blumengebinde liegen dort, | |
den ganzen Tag kommen neue hinzu. Passanten lesen schweigend die | |
Dankesworte auf den Trauerkarten und warten geduldig auf eine Lücke | |
zwischen den Menschen, um ein Foto machen können. | |
So auch Mette Christiansen, die mit ihrer achtjährigen Nichte | |
hierhergekommen ist, um ihr „zu zeigen, dass wir zusammenstehen müssen und | |
dass auch die Juden zu Dänemark gehören“. | |
Es ist ein Echo der Rede, die Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt am | |
Vorabend hält. Vor Zehntausenden bekräftigt sie die Verbundenheit mit der | |
kleinen jüdischen Minderheit: „Ein Angriff auf die Juden ist ein Angriff | |
auf Dänemark, auf uns alle.“ Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dan | |
Rosenberg Asmussen, ruft zum Zusammenhalt, gerade zwischen Muslimen und | |
Juden, auf: „Der Extremismus ist unsere gemeinsame Herausforderung.“ | |
## Lennons „Imagine“ zu Maschinenpistolen | |
„Imagine“ von John Lennon treibt den Menschen die Tränen in die Augen. Ein | |
Meer aus Fackeln erleuchtet den Platz, Menschen jeden Alters sind gekommen. | |
Der Widerspruch, gerade diese pazifistische Hymne unter dem Schutz von mit | |
Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten singen zu müssen, ist | |
unübersehbar. | |
Auf einer anderen Kundgebung am frühen Abend auf dem zentral gelegenen | |
Strøget demonstrieren einige Hundert vor allem junge Menschen gegen | |
Rassismus. Sie legen eine Schweigeminute für die Opfer der Anschläge ein. | |
Die Plakate des linken Bündnisses „Für ein vielfältiges Kopenhagen“ sind | |
auch später auf der großen offiziellen Veranstaltung zu sehen. „Flygtninge | |
og Muslimer er velkomne“ – „Flüchtlinge und Muslime sind willkommen“ s… | |
da. Die Stimmung am Strøget ist freundlich, es wird gemeinsam gesungen. Ein | |
Redebeitrag verurteilt den Antisemitismus. Über der demonstrativen | |
Einigkeit der Großkundgebung kreisen zwei Polizeihubschrauber, nur für die | |
Schweigeminute entfernen sie sich etwas – und für einen Moment ist es | |
beinahe ganz still. In den hinter einem Park liegenden Häusern stehen die | |
Bewohner an den Fenstern. | |
Die Wohnzimmer und Küchen in ihren Rücken werden wie überall hier mit | |
keiner Gardine vor fremden Blicken geschützt. Kopenhagen ist eine offene | |
Stadt, eine Stadt des Friedens. Daran möchten seine Bewohner jetzt so | |
dringend glauben. | |
Nach einer Stunde ist alles vorbei. Die Besucher gehen geordnet nach Hause, | |
an den extra aufgestellten mobilen Toilettenhäuschen vorbei. | |
Reinigungskräfte sammelten in wenigen Minuten die am Boden liegenden Reste | |
der Fackeln ein. Die Polizei musste für die Zehntausenden auf dem Heimweg | |
keine weitere Straße absperren, der Verkehr fließt weitestgehend | |
ungehindert – man wartet hier an Ampeln. Man wartet auch auf die Rückkehr | |
des Alltags. | |
Ob der aber wiederkommen wird, ist alles andere als sicher. Benjamin Abtan | |
ist überzeugt, dass nicht nur in Dänemark und Frankreich die Barriere | |
zwischen zivilem Diskurs und offener Gewalt zusammengebrochen ist. „Und es | |
ist kein Zufall, dass das in der Zeit passiert, in der die letzten | |
Überlebenden des Holocaust sterben. Sie waren das Gedächtnis und Gewissen, | |
das diese Barriere gehalten hat, ein Gewissen, dass noch nicht in diese | |
neue Zeit übersetzt ist.“ | |
17 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
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