# taz.de -- Schlagloch Meinungsfreiheit: Fusel der Freiheit | |
> Über trunkene Medien und den Blutzoll des weißen Mannes: Nach Paris war | |
> „Je suis Charlie“ in aller Munde. Nach Kopenhagen ist das nicht so. | |
Bild: Blumen und Bleistifte allein reichen nicht, um die Meinungsfreiheit zu ve… | |
Die Trunkenheit verebbt nun allmählich, jener seltsame Rauschzustand, der | |
sich nach den Attentaten in Paris unter den westlichen Meinungs- und | |
Medienmachern verbreitete. Es waren Tage ungenierter Selbstbedienung. „Je | |
suis Charlie“ lallend, durfte sich jeder Hochprozentiges genehmigen, den | |
Meinungsfreiheitsfusel, der kostenlos an allen Ecken ausgeschenkt wurde. | |
Betrunkene überschätzen bekanntlich ihre Kräfte, sie halten sich für stark, | |
schön, scharfsinnig und begehrenswert – sie fühlen sich als Helden und | |
genießen die Bewunderung in den Augen ihrer Mitzecher. So sonnten sich | |
Chefredakteure, TV-Moderatoren, Kolumnisten kollektiv im Glanze ihrer | |
Courage, standen auf Barrikaden, gezimmert aus purem Edelmut. Würde nicht | |
ein jeder sein Letztes geben, um das freie Wort zu verteidigen, den freien | |
Gedanken?! | |
Nach Kopenhagen ist es stiller geworden. Womöglich hat der eine oder andere | |
Held bemerkt, wie theoretisch die eigene Courage war. Denn es braucht wenig | |
Mund, in einen Schrei einzustimmen, den viele Münder um den Schreienden | |
herum im selben Moment ausstoßen. Genau der gleiche Schrei kann indes eine | |
ganz andere Qualität haben, wenn die Umgebung stumm ist oder missgünstig. | |
Als der junge Twitter-Redakteur der iranischen Reformzeitung Shargh wenige | |
Stunden nach dem Pariser Attentat ein Selfie mit „Je suis Charlie“ | |
versandte, dachte ich: Chapeau! Der junge Mann gefährdete sich selbst und | |
seine Zeitung. Es war ein Akt der Furchtlosigkeit gegenüber der eigenen | |
Staatsmacht. Danach wusste ich, dass ich mir das Charlie-Logo nicht zu | |
eigen machen würde; es kam mir falsch und billig vor, in meiner Situation. | |
## Wider dem intellektuellen Konformismus | |
Sich in einer Atmosphäre, die von Agnostizismus und latenter Islamophobie | |
geprägt bist, gegen die Ermordung antiislamischer Karikaturisten zu | |
stellen, ist beschämend einfach. Gleiches in der Islamischen Republik zu | |
tun, hat eine völlig andere Qualität. Doch kaum jemand nahm Notiz von dem | |
jungen Iraner. Der Titel seiner Zeitung bedeutet übrigens „Osten“. | |
Meinungsfreiheit ist auch ein östlicher Wert, ebenso wie ein südlicher. Die | |
wahren Helden leben dort, wo der Freiheitsfusel nicht kostenlos ist und wo | |
es nicht einmal die Chance gibt, intellektuellen Konformismus als Wagemut | |
zu kostümieren. | |
Die Attitüde, universelle Werte zu verteidigen, verhüllt in diesen Tagen | |
nur notdürftig die Selbstgerechtigkeit, mit der wir auf den kulturellen | |
Zustand im Rest der Welt blicken. Als würde der Westen, als würde der weiße | |
Mann den höchsten Blutzoll für die Freiheit leisten. Dem ist mitnichten so. | |
Man braucht dazu nur auf die jüngste Liste von Reporter ohne Grenzen zu | |
blicken, mit den Toten des vergangenen Jahres. Man sieht dort übrigens auch | |
viele muslimische Namen. | |
Und die Morde von Paris und Kopenhagen haben nichts an diesem Befund | |
geändert: Die übergroße Mehrzahl der Opfer des Terrors sind Muslime. Monat | |
für Monat bestätigen dies sämtliche Statistiken, wie auch am Tag der | |
Paris-Attentate die Zahl der Toten in Nigeria hundertfach höher war. | |
Ungezählte Leichen, jenseits aller Breaking News. Nichtweiße Leichen. | |
## Entsetzen und Trauer | |
Die beständige Forderung an hiesige Muslime, sich vom Terror zu | |
distanzieren, hat deshalb etwas zutiefst Unwürdiges – unwürdig für uns, die | |
es von den Muslimen verlangen. Weil jeder, der auf die Opferzahlen nur | |
einen flüchtigen Blick wirft, ahnen müsste, wie tief sich das Entsetzen, | |
die Trauer und die Scham bereits in die muslimischen Gesellschaften aller | |
betroffenen Länder hineingefressen haben. | |
Wenn das flammende Bekenntnis der Medien zur Meinungsfreiheit jedoch mehr | |
gewesen sein soll als eine billige Pose, dann müsste es Folgen zeitigen. | |
Was könnte denn Mut unter hiesigen Bedingungen bedeuten? Zum Beispiel: | |
Konsequenzen verlangen, wo der Westen Menschenrechte mit Füßen tritt. NSA, | |
CIA-Folter, Guantánamo – wieso wird niemand zur Rechenschaft gezogen? Sind | |
die „Guantanamo Diaries“, die kürzlich erschienen sind, nur Gruselliteratur | |
für den Bücherschrank? | |
Im Jemen haben die Kinder Albträume, von einer US-Drohne getötet zu werden. | |
Ist das der Antiterrorkampf, den wir wollen? Schreibt da jemand „Nicht in | |
meinem Namen!“, jene Parole, die – nach Paris – von manchen Muslimen | |
hochgehalten wurde, unter dem beifälligen Gemurmel (na, endlich!) des | |
Medienmainstreams. | |
## Dresden und Aleppo | |
Es wäre mutig gewesen, am Jahrestag der Bombardierung von Dresden neben das | |
bekannte Foto der Trümmerlandschaft ein ganz ähnliches Foto aus dem | |
heutigen Aleppo (Syrien) zu stellen. Vor allem wäre es mutig, sich mit dem | |
wachsenden Verdruss über die Medien ernsthaft zu beschäftigen, statt die | |
Kritiker als Irre abzutun. | |
Wie kann es sein, dass das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Medien bei | |
den Nutzern auf unter 30 Prozent gesunken ist, während sich deren Macher | |
für die Brandmauer der Demokratie halten? Es wäre mutig, sich in der | |
Berichterstattung über die Ukraine und Russland den Ursachen jenes | |
„Konformitätsdrucks in den Köpfen der Journalisten“ zu stellen, den sogar | |
unser Außenminister erstaunlich findet. | |
Meinungsfreiheit ist immer die Freiheit einer Minderheitenmeinung. Aber wo | |
sind die abweichenden Positionen? Wo wird ein Diskurs über die wesentlichen | |
Fragen der Außenpolitik, der Finanzpolitik offen, verständlich, | |
massenwirksam gepflegt? Die neue griechische Regierung als „Geisterfahrer“ | |
und „Halbstarke“ zu denunzieren, war eher wenig mutig. | |
Ich las dieser Tage Houellebecq, „Unterwerfung“. Es ist ja gut, sich | |
Haltungen auszusetzen, die man nicht teilt. Das Buch liest sich schnell, | |
zumal wenn man die Schwanzbeschreibungen nur querliest. Die | |
Sich-Unterwerfenden sind bei Houellebecq die Frauen: die Musliminnen | |
ohnehin, sie sind geborene Objekte, nur für Bett und Küche da, und die | |
anderen Frauen zieht es bald hinterdrein. Als Satire wäre das so mäßig wie | |
die obsessive Analerotik von Charlie Hebdo. Wer das Bändchen allerdings, | |
wie zu lesen war, für exzellente Literatur hält, hatte noch reichlich vom | |
hochprozentigen Fusel der Freiheit auf dem Schreibtisch stehen. | |
18 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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