Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Solidarität mit „Charlie Hebdo“: Vom Terror gezeichnet
> Wenn es um den Nachdruck der Karikaturen geht, wollen jetzt nicht mehr
> alle Charlie sein. Aber auch das gehört zur Meinungsfreiheit dazu.
Bild: Eine Auflage von drei Millionen statt der üblichen 60.000: die erste Aus…
Wie schillernd ein Bekenntnis doch sein kann. Als kurz nach dem Anschlag
auf Charlie Hebdo in Paris der Slogan „Je suis Charlie“ von so vielen
aufgegriffen wurde, da war das ein spontaner Ausdruck der Solidarität mit
dem Satireheft, das so brutal angegriffen wurde. Gerade Journalisten und
Karikaturisten ging die Ermordung ihrer französischen Kollegen besonders
nahe.
Doch die Einigkeit, wie man zu Charlie Hebdo stehen soll, ist spätestens
jetzt schon wieder dahin, wo das neue Heft weltweit in Millionenauflage
erscheint. Muslimisch geprägte Staaten reagieren darauf mit Kritik und
Zensur. Und prominente Medienhäuser selbst in Großbritannien und den USA,
etwa die New York Times, zögern, die Karikaturen nachzudrucken, und sehen
sich deshalb massiver Kritik ausgesetzt. Jetzt wollen eben nicht mehr alle
„Charlie“ sein. Das zu akzeptieren gehört aber auch zur Meinungsfreiheit
dazu.
Für Zeitungen liegt es zwar nahe, die Karikaturen nachzudrucken, damit sich
der interessierte Leser selbst ein Bild machen kann. Eine ganz andere Frage
ist aber, ob man sich den Humor von Charlie Hebdo zu eigen machen und seine
Karikaturen zu Ikonen der Meinungsfreiheit stilisieren muss. Dass es für
Massaker an Karikaturisten oder in jüdischen Supermärkten keinerlei
Entschuldigung oder Rechtfertigung gibt steht völlig außer Frage. Trotzdem
kann man mache Zeichnungen aus Charlie Hebdo weiterhin rassistisch,
sexistisch oder zumindest ziemlich platt finden.
Die Sache liegt aber nicht so einfach wie bei den dänischen
Mohammed-Cartoons eines Kurt Westergaard, deren islamophobe Botschaft – der
Prophet Mohammed mit Bombe unter dem Turban – offensichtlich war. Denn
Charlie Hebdo ist in Frankreich zweifellos eine linke Institution. 1969
gegründet, stammt sie aus einer ursprünglich antirassistischen und
anarchischen Tradition. Ihre Spezialität ist ein derber Humor voller
sexuellen Anspielungen, bewusst albern und obszön.
Doch in den letzten Jahren entwickelte das Blatt beinahe schon eine
Obsession mit dem Islam und ein etwas dogmatisches Humorverständnis. Seine
Macher betonen zwar, in alle Richtungen auszuteilen und alle Seiten
gleichermaßen zu beleidigen – Katholiken, Juden und eben Muslime. Aber es
macht eben einen Unterschied, ob man sich in einem katholischen Land wie
Frankreich über Katholiken oder den Front National lustig macht – oder über
Angehörige von Minderheiten wie Juden und Muslime.
## Absolute Freiheit als Fiktion
Gerade in Deutschland sollte man eigentlich wissen, warum man vorsichtig
sein sollte, sich über religiöse Minderheiten und deren Glaubensinhalte
lustig zu machen. Umgekehrt gilt, dass sich Minderheiten häufig gerade
deshalb über symbolische Kränkungen wie banale Karikaturen erregen, weil
andere, viel gravierendere Formen der Diskriminierung - auf dem
Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche - so viel schwerer greifbar und
damit schwerer angreifbar sind. Wenn zur Demütigung aber auch noch die
Beleidigung hinzu kommt, ist für manche eine Grenze überschritten, weshalb
Charlie Hebdo mehrfach auch von Muslimen verklagt wurde.
Zur Wahrheit gehört auch, dass es selbst bei Charlie Hebdo nie eine
absolute Meinungsfreiheit hab. Vor sechs Jahren warf die Zeitschrift ihren
langjährigen Zeichner Siné hinaus, nachdem dieser eine Karikatur von Jean
Sarkozy, dem Sohn des damaligen Präsidenten, veröffentlicht hatte, die als
antisemitisch kritisiert worden war. Und auch der französische Staat zieht
bei der Meinungsfreiheit klare Grenzen. So ließ Frankreichs heutiger
Premier Manuel Valls vor genau einem Jahr eine Tournee des Komikers
Dieudonné M’Bala M’Bala verbieten, weil er dessen Bühnenprogramm für
antisemitisch hielt.
Dieudonné, der ursprünglich aus Kamerun stammt, hat sich in den letzten
Jahren immer mehr dem Front National angenähert. Er ist für den so
genannten Quenelle-Gruß berüchtigt, der viele an den Hitler-Gruß erinnert.
Mehrmals schon wurde er wegen Antisemitismus und Aufstachelung von
religiösem Hass verurteilt, während „Charlie Hebdo“ von diesem Vorwurf vor
Gericht immer wieder frei gesprochen wurde.
Nach dem Terroranschlag von Paris sorgte Dieudonné wieder für einen
Skandal, als er in einem Facebook-Posting schrieb, er fühle sich heute wie
„Charlie Coulibaly“, auf den Nachnamen des Attentäters im Supermarkt
anspielend. Dafür wurde er jetzt von der Polizei verhaftet, der Vorwurf
lautet: Verherrlichung des Terrorismus. Solche Reaktionen sind Wasser auf
die Mühlen all jener, die Frankreichs Staat und Gesellschaft vorwerfen, im
Umgang mit seinen Muslimen mit doppeltem Maßstab zu messen.
## Das Kalkül der Terroristen
Die gängige Lesart der Anschläge ist, dass die Attentäter damit eine
weitere Abbildung des Propheten verhindern wollten. Was aber, wenn das gar
nicht stimmt? Waren die Attentäter wirklich so naiv, dass sie nichts von
den Mechanismen einer modernen Mediengesellschaft verstehen? Könnte es
nicht sein, dass man in ihre Falle tappt, wenn alle Zeitungen und TV-Sender
solche Karikaturen möglichst prominent weiter verbreiten? Und ist es
wirklich so eine gute Idee, Millionen Muslime vor den Kopf zu stoßen, um es
so den Attentätern heinzuzahlen?
Die Terroristen wollen den Kulturkampf verschärfen. Sie hoffen, dass Staat
und Gesellschaft überreagieren, und möglichst viele junge Muslime, die sich
ausgegrenzt fühlen, in ihre Arme treiben. Je mehr junge Muslime in Folge
der Anschläge misstrauisch beäugt oder gar attackiert werden und sich
zusätzlich durch Mohammed-Cartoons provoziert fühlen, so ihr Kalkül, umso
größer wird die Kluft zwischen Muslimen und den europäischen
Mehrheitsgesellschaften.
Was aber wäre dann die richtige Antwort auf den Anschlag von Paris? Nein,
man muss sich Mohammed-Karikaturen oder Witze über den Islam deswegen nicht
verbieten lassen. Der Chefredakteur des deutschen Satiremagazins Titanic,
Tim Wolff, hat in einem ARD-Interview aber einen besseren Vorschlag
gemacht: es braucht mehr Witze über Terroristen, um ihre Taten und ihre
Ideologie der Lächerlichkeit preis zu geben.
17 Jan 2015
## AUTOREN
Daniel Bax
## TAGS
Diskriminierung
Meinungsfreiheit
Karikaturen
Charlie Hebdo
Charlie Hebdo
Wort des Jahres
Attentat
Aleppo
Paris
Charlie Hebdo
Charlie Hebdo
Islamismus
Juden
Jemen
Islamismus
Satire
Terrorismus
Schwerpunkt Frankreich
Dschihadisten
Verschwörungsmythen und Corona
Charlie Hebdo
Judentum
Stéphane Charbonnier
Islam
## ARTIKEL ZUM THEMA
taz nach dem Attentat auf Charlie Hebdo: Und dann stand die Polizei vor der Tür
Der Anschlag auf Charlie Hebdo vor zehn Jahren hat auch die taz verändert.
Das Redaktionshaus ist jetzt sicherer. Aber es hat uns auch was genommen.
Gesellschaft für deutsche Sprache: „Flüchtlinge“ ist Wort des Jahres
Der Ausdruck steht für das zentrale Thema des Jahres 2015, begründet die
Jury ihre Wahl. Auf Platz zwei folgt „Je suis Charlie“ vor „Grexit“ auf…
dritten Rang.
Nach Anschlägen von Paris: Vier Verdächtige in Gewahrsam
Vier Männer wurden in Paris festgenommen. Sie sollen zum Umfeld von Amédy
Coulibaly zählen, der im Januar Geiseln in einem jüdischen Supermarkt
erschossen hat.
Schlagloch Meinungsfreiheit: Fusel der Freiheit
Über trunkene Medien und den Blutzoll des weißen Mannes: Nach Paris war „Je
suis Charlie“ in aller Munde. Nach Kopenhagen ist das nicht so.
Video über Antisemitismus in Paris: Gefährlicher Spaziergang mit Kippa
Ein Reporter mit Kippa läuft durch Paris und lässt sich dabei filmen. Das
Video zeigt Szenen des alltäglichen Antisemitismus.
Debatte Religion und Terrorismus: Die rechristianisierte Republik
Der Koran hat mit dem islamistischen Terror so viel zu tun wie die Bibel
mit Auschwitz. Die Quelle der Gewalt liegt in den realen Verhältnissen.
Karikaturisten in Ägypten: Wenn Bärtige zeichnen schwierig ist
Islamisten, Muslimbrüder, Generalsanhänger – sie alle bedrohen die
Karikaturisten Anwar und Makhlouf in Kairo. Über das Zeichnen zwischen
Tabus.
Frankreich im Anti-Terror-Kampf: 2.680 Stellen gegen den Terror
Frankreich verstärkt seine Sicherheitskräfte. Vor allem der Geheimdienst
erhält mehr Personal. Zusätzlich werden muslimische Geistliche eingestellt.
Frankreich nach den Anschlägen: Die Moschee des Attentäters
Mit Pädagogik und Dialog will der Moschee-Vorstand von Gennevilliers die
Jugend erreichen. Einer, der hier betete, war der Attentäter Chérif
Kouachi.
Empörung über „Charlie Hebdo“: Blatt wegen Clooney-Zitats verboten
Eine iranische Zeitung zeigt George Clooney auf dem Titel, zitiert ihn mit
„Ich bin Charlie“ – und wird verboten. In weiteren islamischen Ländern g…
es Proteste.
Tahar Ben Jelloun über „Charlie Hebdo“: „Keine Religion akzeptiert Ironi…
Der Bestseller-Autor Tahar Ben Jelloun über seine Freunde von „Charlie
Hebdo“, das Problem mit Le Pen und den üblen, neuen Witz Houellebecqs.
Alte Videos von Charlie Hebdo: Fatwa aus dem Nonsens-Büro
Lustige, kollegiale Alberei und doch tieftraurig: Im Netz zeigen alte Clips
den Alltag beim französischen Satiremagazin Charlie Hebdo.
Proteste gegen Mohammed-Karikaturen: „Nieder mit Charlie Hebdo“
Mehrere muslimische Länder verurteilen die Anschläge in Paris, kritisieren
aber den Titel des neuen Hefts. In Pakistan gibt es Proteste, in Frankreich
weitere Festnahmen.
Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Beginnt die Pegidisierung Europas?
Frankreich erholt sich nur langsam vom Schock der Morde. Die Angst vor den
Islamhassern ist groß. Auch in den Nachbarländern.
Zwei Tote bei Anti-Terror-Einsatz: Anschlag in Belgien vereitelt
Bei einem Großeinsatz der belgischen Polizei wurden zwei mutmaßliche
Dschihadisten erschossen. Sie sollen einer rund zehnköpfigen Terrorzelle
angehört haben.
Französische Muslime nach Anschlägen: Der Konflikt im Klassenzimmer
In einigen Schulen weigerten sich muslimische Schüler, der Terroropfer zu
gedenken. Sie fühlen sich von Mohammed-Karikaturen beleidigt.
Charlie Hebdo in der arabischen Welt: „Je suis fed up“
Beim dänischen Karikaturen-Streit brannten noch Fahnen und Botschaften.
Diesmal gibt es wichtigere Themen: Krieg, Ölpreis und Flüchtlinge.
Die Streitfrage: Witze machen über Religion?
„Charlie Hebdo“ hat über alle Religionen gespottet – und will es weiterh…
tun. Muss das sein?
Nach den Attentaten von Paris: Charlie sein oder nicht sein
Das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ war Teil unserer DNA, sagt der Autor
Sélim Nassib. Frankreich fühlt sich erstmals wieder als ein Volk.
Zeichner Ali Dilem über Satire und Islam: „Mohammed ist etwas anderes“
Der bekannteste Karikaturist Nordafrikas sieht in „Charlie Hebdo“ ein
Vorbild. Doch Ali Dilem musste lernen, mit ständiger Lebensgefahr zu leben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.