| # taz.de -- Frankreich nach den Anschlägen: Die Moschee des Attentäters | |
| > Mit Pädagogik und Dialog will der Moschee-Vorstand von Gennevilliers die | |
| > Jugend erreichen. Einer, der hier betete, war der Attentäter Chérif | |
| > Kouachi. | |
| Bild: In der Moschee von Gennevilliers beten regelmäßig 3.000 Gläubige, bis … | |
| GENNEVILLIERS/SAUCERRES taz | Hier im Haus Nummer 17, Rue de Basly, hat | |
| Chérif Kouachi gewohnt. Der jüngere der beiden Brüder, die am 7. Januar in | |
| die Redaktionsräume von Charlie Hebdo eindrangen und zwölf Menschen | |
| erschossen. Die Straße in dem Pariser Vorort Gennevilliers einige Tage | |
| später ist ruhig, die Journalisten sind abgezogen. Auf der linken Seite | |
| kleine Siedlungshäuser, rechts, wo auch Familie Kouachi lebte, | |
| sechsgeschossige Mietshäuser aus hellem Backstein. Freundlich, unauffällig, | |
| ordentlich. Kein Slum, keine Brutstätte schlimmster Vernichtungsfantasien. | |
| Chérif Kouachi, 32, lebte hier mit Frau und Kind, arbeitete in einem | |
| Supermarkt an der Fischtheke, besuchte regelmäßig die Moschee in | |
| Gennevilliers. Bis vor zwei Jahren. „Er kam nicht jeden Tag“, sagt | |
| Abdelbaki Attaf. Der Mittdreißiger, schwarze Cargohose, schwarzer Anorak, | |
| Handy in der Hosentasche, ist Mitbegründer der Moschee und ihr | |
| Geschäftsführer. Sein Büro ist klein wie eine Hausmeisterzelle. Attaf | |
| erinnert sich: „Kouachi war ein Gläubiger, der freitags zum großen Gebet | |
| kam und wieder ging. Wir kannten ihn nicht näher.“ | |
| Einmal ist der junge Mann auffällig geworden. Sodass sich Abdelbaki Attaf | |
| doch an ihn erinnert. Das ist vor zwei Jahren gewesen, vor den | |
| Präsidentschaftswahlen. „Wir haben dazu aufgerufen, wählen zu gehen“, | |
| erklärt er. „Ihr seid Muslime, haben wir gesagt, ihr seid Teil der | |
| Gesellschaft, nehmt teil am Leben der Nation. Erfüllt eure Bürgerpflicht! | |
| Wen ihr wählt, ist eure Sache!“ Chérif Kouachi soll sich erhoben und | |
| gerufen haben, dass er als Muslim nicht gemeinsam mit Nichtmuslimen wählen | |
| gehen will. „Dann ist er abgehauen. Und danach haben wir nichts mehr von | |
| ihm gehört.“ | |
| Gennevilliers, eine Kommune mit rund 42.000 Einwohnern, liegt im Nordwesten | |
| von Paris. Die Metrolinie 13 endet hier. Die lokale Moschee ist eine der | |
| größten im Pariser Raum. 3.000 Menschen besuchen sie regelmäßig. Es ist ein | |
| moderner Bau in der Rue Paul Vaillant Couturier, erst fünf Jahre alt, mit | |
| lachsfarben gestrichenen Außenwänden, einem geschützten Innenhof und zwei | |
| bescheidenen Minaretten. | |
| ## Monsieur Benali kommt vom Gebet | |
| Die Tür ist offen, die Zeit des Mittagsgebets, Männer, traditionell | |
| gekleidet oder in Jeans und Daunenjacke, kommen und gehen allein, manche | |
| paarweise. Monsieur Benali kommt vom Gebet zurück, ein älterer Herr mit | |
| fehlenden Vorderzähnen und einem weiß-rot-karierten Tuch auf dem Kopf. Er | |
| sei nicht in der Lage, der Presse Auskunft zu geben, entschuldigt er sich | |
| und bietet freundlich einen Kaffee an, den er im Plastikbecher in der | |
| Mikrowelle aufwärmt. Sein Neffe, Mohamed Benali, sei der Präsident der | |
| Association Ennour, die die Moschee privat betreibt. | |
| Die Moschee von Gennevilliers steht für einen liberalen Islam, gemäßigt, | |
| wie man im Französischen sagt. Die Kommune hat das Grundstück zur Verfügung | |
| gestellt, mitten in der Stadt, betont Jean-Francois Boyé, der das Kabinett | |
| des Bürgermeisters leitet. Gennevilliers wird kommunistisch regiert, seit | |
| 1934. Wir arbeiten gut zusammen, erklären Moschee und Rathaus. Doch wie man | |
| im Fall Chérif Kouachi sieht, fallen manche Leute und manche Ansichten | |
| durchs Raster. „Wenn sie sich radikalisieren, dann woanders, via Internet“, | |
| sagt Abdelbaki Attaf, „aber nicht in unserer Moschee. Wir sind ihnen zu | |
| offen.“ Man legt Wert auf das Miteinander. | |
| „Gennevilliers ist eine reiche Stadt mit einer sehr armen Bevölkerung“, | |
| erklärt Boyé. Aus den ehemaligen Fabriken, sofern sie nicht abgerissen | |
| wurden, sind Firmen geworden, es gibt Arbeit – für Angestellte, die aus | |
| Paris kommen. Die Menschen in Gennevilliers selbst haben oft einen | |
| geringeren Bildungsgrad, die Arbeitslosigkeit rangiert bei 19 Prozent. Boyé | |
| schätzt den Ausländeranteil in seiner Kommune auf 40 Prozent. Statistiken | |
| gebe es keine. Wie viele Muslime hier lebten, sei ebenfalls nicht genau zu | |
| erfassen. | |
| ## „Sie sind empfänglich, verletzbar, anfällig“ | |
| Wie erklärt er sich die Radikalisierung junger Männer wie Kouachi? 30 Jahre | |
| Krise und Prekariat, sagt der kommunistische Verwaltungsmann trocken. | |
| Massenarbeitslosigkeit und Identitätskrise – die mit dem normalen Rassismus | |
| der französischen Gesellschaft zu tun habe. „Auch wenn die jungen Leute | |
| einen französischen Pass haben, sind sie sichtbar Immigranten. Sie haben | |
| das Gefühl, von einem Teil der Gesellschaft zurückgewiesen zu werden.“ | |
| Abdelbaki Attaf sagt über diese Klientel, die oftmals ohne Arbeit, ohne | |
| Schulabschluss und familiären Rückhalt ist – so wie die Waisen Kouachi: | |
| „Sie sind empfänglich, verletzbar, für radikale Denkweisen besonders | |
| anfällig.“ | |
| Die Kommune versuche über die Schule, mit Kultur- und Freizeitangeboten | |
| massiv zu intervenieren, sagt Boyé, ein großer, schlanker Mann mit Brille, | |
| der in der dritten Etage des 19-stöckigen Rathausturms sein Büro hat. Geld | |
| für diese Interventionen gibt es, weil die Firmen ihre Gewerbesteuern an | |
| die Kommune abführen. „Wir haben noch Glück.“ Die staatlichen Zuwendungen | |
| werden innerhalb der nächsten drei Jahre um 10 Millionen Euro gesenkt. | |
| Die Moschee von Gennevilliers versucht es auf ihre Weise. „Mit Pädagogik | |
| und Dialog, Dialog und wieder Dialog“, sagt Abdelbaki Attaf. Es ist später | |
| Nachmittag, Kinderstimmen erklingen in den Räumen der Moschee, ein | |
| Arabischkurs. Die Sprache, auch das ist ein Problem. Nicht alle | |
| Moscheebesucher sprechen Arabisch, umgekehrt spricht nicht jeder Imam | |
| Französisch. | |
| ## Ein Imam, der kein Französisch spricht | |
| In Gennevilliers haben sie einen, der erst kürzlich aus Marokko gekommen | |
| und des Französischen noch nicht mächtig ist. Daneben gibt es einen | |
| frankophonen Imam, der nicht nur den Koran liest, sondern auch auf | |
| Französisch predigt. „Es ist gut, wenn die Gebete in beiden Sprachen | |
| stattfinden“, sagt Attaf. | |
| Adelbaki Attaf hat eine Woche der religiösen Diplomatie hinter sich: Er war | |
| bei der Beerdigung für den getöteten muslimischen Polizisten, er hat den | |
| anderen Familien der Ermordeten sein Beileid ausgesprochen, er war in der | |
| Synagoge bei der Gedenkfeier für die jüdischen Opfer der Geiselnahme im | |
| Lebensmittelmarkt. „Juden und Muslime haben immer gut zusammengelebt“, sagt | |
| er, hier sowieso. | |
| Wie steht es dann um die antisemitische Haltung unter den Jugendlichen? Es | |
| wäre gelogen, dies zu bestreiten, meint er und präzisiert: „Das | |
| gegenwärtige Problem, unter dem unsere jüdischen Brüder leiden, ist eher | |
| ein antiisraelisches Problem.“ In der Moschee haben sie während des | |
| Gazakrieges eine Diskussion veranstaltet und den Leuten erklärt, dass man | |
| mit den Opfern solidarisch sei – „aber mit allen, nicht nur mit den | |
| Palästinensern“ –, und dass die Juden hier damit nichts zu tun haben. | |
| ## 10.000 Juden wollen weg | |
| Im Pariser Vorort Sarcelles, etwa 15 Kilometer nördlich von Paris, leben | |
| 60.000 Einwohnern, 15.000 davon sind Juden. Es gibt sechs Synagogen und | |
| zwei Moscheen. Der 22-jährige Yohan Cohen, der bei dem Überfall auf den | |
| jüdischen Supermarkt erschossen wurde, wohnte hier. Eine Stadt, die auch in | |
| Osteuropa auf dem Reißbrett entstanden sein könnte. Plattenbauten, wohin | |
| man guckt, Straßenbahn, Hochhäuser und ein Einkaufszentrum, das überwiegend | |
| aus afrikanischen Friseuren und Stoffläden, Basaren und einer | |
| Halal-Metzgerei besteht. | |
| Im Juli 2014 randalierten Jugendliche in Sarcelles gegen jüdische Geschäfte | |
| und Einrichtungen, sie zündeten Brandsätze, pöbelten herum – der Gazakrieg | |
| war voll im Gange. 2014 stellten laut der Jewish Agency in Paris 5.500 | |
| Juden einen Antrag auf Auswanderung nach Israel. Für 2015 sind bereits über | |
| 10.000 Anträge eingegangen. Und in der vergangenen Woche sollen sich allein | |
| über 2.000 Interessierte für einen Infoabend angemeldet haben. | |
| Nicht weit vom Einkaufszentrum entfernt liegt die große Synagoge. Hohes | |
| Eisentor, zwei Polizisten mit Maschinenpistolen vor der Tür. Wer klingelt, | |
| darf eintreten, auch ohne Voranmeldung. Der Rabbi befinde sich in Israel, | |
| heißt es, letztes Geleit für die Toten aus Frankreich. Im Café gegenüber | |
| sitzen eine Frau und ein Mann mit Kippa, sonst ist es leer. Die Stimmung | |
| ist gedämpft, angespannt, versichert der junge Mann hinter der Theke. Es | |
| sei wenig los, viele gingen nicht raus, schlecht fürs Geschäft. Der | |
| Polizeischutz wurde verstärkt. | |
| ## „Unsere Eltern sind auch nicht so für die Karikaturen“ | |
| Die Gegend um die Synagoge nennt man hier Klein-Jerusalem. Orientalisch | |
| wirkt hier nichts, bis auf die Leckereien in der Auslage des Cafés. „Sofort | |
| am nächsten Tag“ nach den Krawallen im Juli habe man mit den Vertretern der | |
| jüdischen, muslimischen und christlichen Gemeinden einen runden Tisch | |
| anberaumt, sagt François-Xavier Valentin, die rechte Hand des | |
| sozialistischen Bürgermeisters von Sarcelles. Hat sich die Situation | |
| verbessert? „Sie respektieren sich“, sagt Valentin, „aber jeder lebt in | |
| seiner Gruppe.“ | |
| Drei Mädchen sind in Sarcelles auf dem Weg von der Schule nach Hause. Die | |
| jüngste ist schwarz und hat ihr gelocktes Haar zu Zöpfen geflochten, die | |
| beiden älteren haben eher maghrebinische Wurzeln. Waren sie bei dem großen | |
| Marsch in Paris dabei? „Wir durften nicht“, rufen alle drei. „Unsere Elte… | |
| sind auch nicht so für die Karikaturen“, sagen die beiden älteren, etwas | |
| kichernd. Die Kleine sagt: „Meine schon, aber ich durfte trotzdem nicht. | |
| Ich musste für die Schule arbeiten.“ | |
| Abdelbaki Attaf ist auch kein Freund der Charlie-Hebdo-Karikaturen. „Sie | |
| schmerzen die Muslime.“ Aber er sagt: „Wir sind für die Meinungsfreiheit.�… | |
| Bei der großen Kundgebung in Paris ist er mitgelaufen, einen Stift in der | |
| Hand. „Der Koran sagt, die Feder steht für Wissen. Und Wissen bedeutet | |
| Freiheit. Es hängt also alles zusammen.“ Attaf gibt sich optimistisch. „Es | |
| wird einen neuen Aufbruch geben wegen dieses Dramas. Auf allen Ebenen. Die | |
| religiösen Institutionen müssen ihre Arbeit machen.“ | |
| 20 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Seifert | |
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